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Kultur Codex Manesse

Der Minnesang-Krimi

„Minne?“ „Minne!“ MIniatur zu Konrad von Altstetten aus dem Codex von ca. 1300 „Minne?“ „Minne!“ MIniatur zu Konrad von Altstetten aus dem Codex von ca. 1300
„Minne?“ „Minne!“ Miniatur aus dem Codex von ca. 1300
Quelle: pa/prismaarchivo/Prismaarchivo
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Der Codex Manesse wird Welterbe der Unesco. Ohne diese unschätzbar wertvolle Handschrift wüssten wir weniger übers Mittelalter. Mehrfach musste der Codex gerettet werden – auch vor der Gier des Vatikans. Wie der „Winterkönig“ und 400.000 Goldmark dabei halfen.

Am 18. Mai dieses Jahres kommt die Nachricht, dass die Unesco 64 neue Vorschläge zur Aufnahme ins Weltdokumentenerbe angenommen hat, darunter vier aus Deutschland. Insgesamt sind nun 496 Dokumente ausgezeichnet, 28 deutsche. Zu den neuen gehören der Codex Manesse, der Behaim-Globus, Dokumente aus der Geschichte der Hanse sowie Handschriften aus der Hofschule Kaiser Karls des Großen.

Was man wissen muss: Das Weltdokumentenerbe ist die zuletzt hinzugekommene Abteilung innerhalb des Welterbes – 1992 eingerichtet, nach dem Weltkultur- und Weltnaturerbe in den 1970er-Jahren. Bei ihren Bemühungen um Frieden hatte die 1945 gegründete Unesco, aufgerüttelt durch den drohenden Untergang ägyptischer Kunst beim Bau des Assuan-Staudamms, den Beschluss gefasst, zunächst Kultur und Natur unter internationalen Schutz zu stellen. In Deutschland wurden als Kulturerbe etwa der römische Limes und die Altstadt von Regensburg ausgewählt. Beim Naturerbe war es das norddeutsche Wattenmeer. Wiederholt kam es zur Aberkennung der Auszeichnung wie im Falle des Dresdner Elbtals nach dem Bau einer Brücke. Abholzungen im polnischen Bialowieza-Urwald beschäftigen derzeit den Europäischen Gerichtshof.

Vergleichbares ist beim Dokumentenerbe nicht zu befürchten. Die Urschrift von Beethovens 9. Sinfonie oder die Gutenberg-Bibel sind gut geschützt. In diesem Fall geht es um andere Ziele. Die Unesco-Kommission hat vier Punkte in den Vordergrund gerückt: die Erinnerung an Dokumente, die Wendepunkte der Geschichte darstellen, ihre Rolle als Wissensquelle für die Gestaltung der Gesellschaft, eine Erhöhung des Bewusstseins der Bedeutung der jeweiligen Texte, schließlich der bequeme Zugang durch die modernen digitalen Medien. Trifft dies auf die Wahl des Codex Manesse oder der Großen Heidelberger Liederhandschrift (Sigle C) als Sammlung mittelalterlicher Lyrik zu?

Wer einmal den Codex in der Heidelberger Universität gesehen hat – als Faksimile, das Original wird nur selten bei besonderen Anlässen gezeigt –, wird die Pracht in Erinnerung haben. Aufgeschlagen ist die Doppelseite mit Text und Bild des bedeutendsten deutschen Minnedichters Walther von der Vogelweide, der Text in schönster gotischer Schrift mit farbigen Initialen zu Beginn jeder Strophe, das Bild des Dichters in blauem Gewand auf grünem Stein, die Beine übereinandergeschlagen, wie es seinem Gedicht „Ich saz ûf eime steine“ entspricht, das Ganze in buntem Rahmen und im Großformat von 35 x 25 Zentimetern.

Fügen wir hinzu, dass das gebundene Buch 426 Pergamentblätter umfasst, also 852 Seiten. Im gesamten Mittelalter gibt es nur bei Bibeln Vergleichbares. Geschaffen wurde es in der Zeit kurz nach 1300 bis etwa 1330/40. Womit sogleich einer der interessantesten Punkte berührt ist: Warum so spät? Walther von der Vogelweide war damals seit 100 Jahren tot.

Im letzten Moment

Aber das ist es ja. Wir haben es mit einer Sammlung von Texten zu tun, die zwar mit den letzten Eintragungen in die damalige Gegenwart reicht, zum größeren Teil aber der damaligen Vergangenheit angehört – wenn man so will: ein Fall von Nostalgie. Ein Zürcher Patrizier namens Rüdiger Manesse sammelte zusammen mit seinem Sohn etwas, was unterzugehen drohte. Er war nicht der erste und einzige Sammler, aber der mit Abstand bedeutendste. Zwei Lyriksammlungen gingen voraus – die Kleine Heidelberger Liederhandschrift (Sigle A) um 1250 und die Weingartner Liederhandschrift (Sigle B) um 1300. Beide also ebenfalls aus einer Zeit, als der Höhepunkt dieser Kunst bereits überschritten war. A bietet überwiegend „Klassiker“ wie Walther von der Vogelweide, B verstärkt älteren Minnesang wie etwa Lieder von Heinrich von Veldeke. C schöpft aus beiden und überbietet sie.

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Aber noch einmal: Warum so spät? Die großen Ependichter, Hartmann von Aue oder Wolfram von Eschenbach etwa, wurden sofort in umfangreichen Handschriften überliefert, man spricht von mehr als 100 Fällen gegenüber diesen drei. Ein Grund muss darin gelegen haben, dass Epen zwar für den Vortrag gedacht waren, aber früh zum Lesestoff wurden, Lieder demgegenüber lange Zeit nur als gesungen vorstellbar waren – die Verschriftlichung ist in ihrem Fall fast ein Paradox. Erst in Zeiten, in denen der lebendige Vortrag zurücktrat, gab es offenbar einen Grund für die schriftliche Fixierung und damit Erhaltung im letzten Moment.

Der Codex Manesse passt so gesehen (zusammen mit seinen Vorgängern) tatsächlich zum von der Unesco geforderten medialen Wendepunkt – von der Mündlichkeit in die Schriftlichkeit. Aber eine Wissensquelle für die Gestaltung der Gesellschaft? Man kann auch dies bejahen, wenn man bedenkt, dass im bevorzugt gesammelten Minnesang eine besondere Fassung der Liebe vorliegt, eine (nach heutigen Maßstäben) überaus seltsame Liebe: Das durchgehende Thema liegt in der Annäherung an eine gesellschaftlich unerreichbare Dame und in der Klage über diese Unerreichbarkeit – passend zu den feudalen Verhältnissen mit ihren Treuevorstellungen, die über allen Widerstand hinausreichen. Kein Vorbild, aber eine große kulturelle Alternative, ausgestaltet in ihrer ganzen Komplexität, wenn etwa Walther von der Vogelweide das Konzept sowohl aufnimmt als auch kritisiert, indem er beidseitige Liebe mit entsprechender Erfüllung fordert.

Man kann die Texte jedenfalls als Ausschöpfung eines Konzepts lesen, wobei schon die Anlage als solche bemerkenswert erscheint. Natürlich ist diese Liebe höfische Liebe, ja höfisches Spiel, gebunden an die damalige Adelswelt. Dies aber prägt auch die Anlage: Die Abfolge der Autoren mit ihren jeweiligen Werken ist nämlich nicht zeitlich oder räumlich bestimmt, sondern folgt dem Prinzip des sozialen Standes. Den Beginn macht ein Kaiser, Heinrich VI., gefolgt von drei Königen, dann einer großen Reihe von Herzögen, Pfalzgrafen und Grafen, ehe Herren an die Reihe kommen, einfache Adlige, und ganz zuletzt auch noch Bürger. Walther von der Vogelweide etwa, der prominenteste aller Autoren, steht nicht am Beginn, sondern bei den Herren, als Nummer 42, zwei Positionen vor Wolfram von Eschenbach, der neben den großen Epen auch einige Minnelieder geschrieben hat.

„Ein freudiges nationales Ereignis“

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Wie wichtig den Sammlern – den Manesses und sicher einem Kreis von Beratern und Zulieferern – dieses Prinzip war, zeigt sich besonders eindringlich an der Behandlung der Zusätze. Man hatte offenbar mit einem Grundstock von etwa 350 Strophen begonnen und auf mehrere Lagen verteilt. Als dann neue Funde auftraten, mussten sie nach dem sozialen Stand ihrer Autoren eingeordnet werden. Für bedeutende mitteldeutsche Fürsten löste man die ersten Lagen entsprechend auf beziehungsweise nähte (mit roten Fäden) Einzelblätter ein, um das Prinzip aufrechtzuerhalten.

Um 1330/40 war das Werk abgeschlossen und trat seinen Gang durch die Geschichte an, durchaus mit krimihaften Zügen. Das wertvolle Buch wurde mehrfach verkauft, kam in den Besitz des Pfälzer Kurfürsten, der nach seinem gescheiterten Versuch, böhmischer König zu werden („Winterkönig“), Heidelberg verließ und auf dem Weg ins Exil auch den Codex Manesse mitnahm – ein Glück, denn die Bibliotheca Palatina fiel in die Hände der Katholischen Liga, die den gesamten Bestand nach Rom transportieren ließ. Ein Großteil kehrte 1816 im Zuge des Wiener Kongresses zurück, nicht aber der Codex Manesse, der mittlerweile in Paris lag, wo ihn Jacob Grimm entdeckte. 1888 gelang der Rückkauf gegen Tauschobjekte sowie die gigantische Summe von 400.000 Goldmark (etwa 7 Millionen Euro).

Das Ereignis wurde in Heidelberg groß gefeiert und bietet einen interessanten Blick auf die Einschätzung der Bedeutung dieses Werks. In der Grußadresse an Kaiser Friedrich III. ist die Rede vom „kostbaren Dokument“, das „für das deutsche Reich wieder erworben“ wurde. Und dann: „Der Verlust der Manessischen Handschrift, für die Universität Heidelberg schon an sich von schwerwiegender Bedeutung, erhielt durch die Verhältnisse, unter welchen er erfolgte, das Gepräge einer tiefschmerzlichen Schädigung der geistigen Bestrebungen unseres Volkes.“ Die Rückkehr war demnach „ein freudiges nationales Ereigniß“ „zur Zeit der Aufrichtung eines machtvollen deutschen Reiches“.

Wenn es nicht so nationalistisch daherkäme, liest sich dies fast wie eine Bewerbung bei der Unesco. Jedenfalls klingt der Anspruch auf ein nationales Erbe durch, der zu den Grundanforderungen an die Aufnahme unter das Weltdokumentenerbe gehört. Der deutsche Unesco-Botschafter hat es etwas bescheidener und auch zutreffender formuliert, wenn er den Codex Manesse dem „Gedächtnis der Menschheit“ zurechnete und hervorhob, dass Deutschland und Frankreich bei der Bewerbung erfreulich zusammenarbeiteten. Die geforderte Erhöhung des Bewusstseins für die Bedeutung des Werks ist also da, die mediale Aufbereitung war mit der Einstellung ins Netz zur kostenlosen Nutzung nur die letzte Konsequenz.

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