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Kultur „Zone of Interest“

Nach der Hälfte des Festivals hat Cannes schon einen Favoriten

Filmredakteur
Familie Höß badet in Auschwitz Familie Höß badet in Auschwitz
Familie Höß badet in Auschwitz
Quelle: pa/dpa/A24/Mica Levi/Festival de Cannes/sab
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Rudolf Höß war der Kommandant von Auschwitz. Seine Familie lebte mit ihm auf dem Gelände des KZs. Wie haben sie den Massenmord ausgeblendet? Dieser Frage geht der Film „Zone of Interest“ nach. Beim Filmfestival in Cannes führt er jetzt alle Wertungen an. Doch es gibt ein Problem.

Dieser Garten ist Stolz und Freude von Hedwig, der Hausfrau. Sie hat alles geplant und angelegt, die Gemüsebeete und Obstbäume und das Gewächshaus und das Badebecken. Ihr Reich wird an einer Längsseite von einer hohen, stacheldrahtbewehrten Mauer begrenzt. Kieswege führen zu dem Familienheim, einem zweistöckigen Gebäude mit klaren Linien, ohne Architektenschnickschnack. Ihr Mann lobt sie, wenn er nach getaner Arbeit nach Hause kommt, die drei Kinder – zwei bis fünf Jahre alt – spielen unbeschwert in dem kleinen „Paradies“, wie die Mutter ihr Refugium nennt.

Die Mauer ist die Außenmauer des Konzentrationslagers Auschwitz, in dem „Paradies“ wohnt der Lagerkommandant Rudolf Höß mit seiner Familie. Der Film, der dort spielt, heißt „The Zone of Interest“ – nach dem deutschen Begriff „Interessengebiet“, mit dem die Nazis eine Sperrzone rund um Auschwitz euphemistisch benannten – und ist jener Wettbewerbsbeitrag, der nach der ersten Hälfte des Festivals in Cannes viele Wertungen anführt.

Die Kühnheit des Stilwillens von Regisseur Jonathan Glazer verschlägt einem lange den Atem. Es ist eine britisch-polnische Produktion, in der ausschließlich Deutsch gesprochen wird. Das reale Haus der Höß-Familie lag nicht direkt an der Mauer, sondern in einiger Entfernung, aber aus dem oberen Stockwerk, erinnerte sich die Höß-Tochter Brigitte später, konnte sie die Gefangenen-Unterkünfte und die Schlote des alten Krematoriums sehen. Glazer hat das Haus zugunsten seiner Versuchsanordnung direkt an die Mauer gerückt, ein Kunstgriff, der durchaus zu rechtfertigen ist.

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Und so sieht man den Hössens zu, wie sie ihrem Alltag nachgehen: Besucher durchs Gärtlein führen, im Pool plantschen, im Hause Abendbrot essen, sich von ihren Domestiken – alles stumme Gefangene – bedienen lassen. Was hinter der Mauer geschieht, könnten sie hören und riechen. Sie müssten es hören und riechen. Man sieht des Nachts den roten Schein über dem Krematorium. Man hört das Schreien der Gepeinigten und die Schüsse der Wachtposten. Die Familie Höß blendet das alles weg.

Hier die erste Frage, die „The Zone of Interest“ nicht beantwortet. Nicht mal zu beantworten versucht: Ist das Unwissen? Natürlich nicht. Ist das Nichtwissenwollen? Sicher, aber das reicht nicht als Erklärung. Ist das wissentliche Billigung aufgrund rassistischer und nationalistischer Verblendung? Bestimmt auch. Ist das die Sehnsucht nach einer Idylle inmitten einer als bedrohlich empfundenen Lage? Ohne Zweifel. Ist das der Stolz der aufgestiegenen Kleinbürger auf den erreichten Status, den sie nicht gefährden wollen, indem sie den millionenfachen Mord an sich heranlassen?

Viele Erklärungsversuche, aber sie interessieren Jonathan Glazer nicht wirklich. Er liefert in einer sehr freien Verfilmung von Martin Amis’ gleichnamigem Roman eine Zustandsbeschreibung, die möglicherweise beklemmender als alles andere ist, was wir bisher in Holocaust-Filmen gesehen haben. Sie konzentriert in einem Garten die Haltung einer ganzen Nation, die nichts wissen wollte: von den Zivilisten an der „Heimatfront“, die eines Morgens die Juden ihrer Stadt in langen Reihen zu einem Sammelpunkt laufen sahen, über die Soldaten der angeblich so ehrenhaften Wehrmacht, bis zu den Bediensteten der Reichsbahn, die die Züge in die Vernichtungslager aufs Gleis brachten.

Eine halbe, vielleicht auch eine Dreiviertelstunde sieht man diesem ungeheuren Ignorieren der Realität und Ausschaltung des Gewissens mit zunehmender Perplexität zu. Aber irgendwann – wenn einem Glazers Konzept glaskar ist – fragt man sich, ob das genug sein kann. Es gibt wenig Entwicklung im permanenten Grauen.

Hedwigs Mutter, die zu Besuch kommt, hält den Geruch und den Höllenschein nicht aus und flüchtet in der ersten Nacht. Hedwig selbst rebelliert einmal wider den Kadavergehorsam gegenüber Vaterland und Familienoberhaupt, als ihrem Mann die Versetzung droht – aber es ist keine Rebellion des Gewissens, sondern eine gegen die Zumutung, ihr „Paradies“ aufgeben zu müssen.

Irgendwie muss Glazer gespürt haben, dass diese eine Perspektive doch nicht hinreichend ist, und so zeigt er – wie mit einer Nachtsichtkamera aufgenommen – ein Mädchen aus dem Widerstand, das im Schutz der Dunkelheit Lebensmittel für Zwangsarbeiter versteckt (aber ansonsten im Film nicht auftaucht).

Asche auf den Feldern, mehr sieht man nicht

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Glazers bisher letzter Spielfilm hieß „Under the Skin“, in dem ein Sukkubus-Alien – gespielt von Scarlett Johannsen – sich in Schottland Männer sucht und sie zerstört. Es ist letztlich ein Film darüber, was das Wesen des Menschen ausmacht. Dieser Dämon entdeckt in sich etwas, was er vorher nicht kannte: Empathie.

„The Zone of Interest“ kann man als das schiere Gegenteil lesen: als die Verweigerung, die Leugnung, die Unterdrückung jeglicher menschlicher Empathie. Dass Menschen dazu fähig sind, an diese Erkenntnis haben wir uns bei jedem neuen Genozid mit immer neuem Entsetzen gewöhnen müssen. Seitdem suchen wir nach den psychologischen, geschichtlichen und gesellschaftlichen Faktoren, die das stets aufs Neue ermöglichen.

Daran ist Glazer – wenn überhaupt – nur am Rande interessiert. Er präsentiert ein uns leise beschleichendes Bild des größtmöglichen Horrors, das deshalb so effektiv ist, weil es den Horror nicht zeigt. Christian Friedel ist ein besorgter und liebevoller Vater und Sandra Hüller eine pflicht- und verantwortungsbewusste Hüterin des Hauses. Ein paar Mal sieht man Vater Höß in sachlichen Dienstbesprechungen über bessere Mordmethoden, und einmal fährt Mutter Höß eine Angestellte an, sie könne dafür sorgen, dass deren Mann ihre Asche auf den Feldern verstreue. Mehr Schrecken dringt nicht durch den Filter.

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Man hat den Eindruck, dass Glazer sich an jenem Bild abarbeitet, das ein halbes Jahrhundert lang bei der Darstellung von Nazis im anglo-amerikanischen Film und Fernsehen vorherrschte – dem brüllenden, herzlosen Unmenschen. Er operiert mit dem hundertprozentigen Kontrast. Dabei hat es seit einiger Zeit Risse in dieser Darstellung gegeben, Christoph Waltz’ kultivierten (wenn auch weiterhin gnadenlosen) Offizier in „Inglourious Basterds“ oder Philip Hochmairs wie ein moderner Manager agierender Heydrich in „Die Wannseekonferenz“ (die jetzt gerade in französischen Kinos läuft).

Vor allem jedoch gab es 1977 Theodor Kotullas Film „Aus einem deutschen Leben“, ein Jahr, bevor „Holocaust“ den Schlaf des bundesdeutschen Vergessens für immer unterbrach. Es war ein Film, in dem Götz George Rudolf Höß spielte, und er war keinen Deut weniger erschreckend wie „The Zone of Interest“. Irgendwann durchschaut in Kotullas Film Höß Frau das ganze Ausmaß der Vernichtungsmaschinerie und stellt ihren Mann erschrocken zur Rede, der sich auf sein Pflichtgefühl beruft. Würde er auch ihre gemeinsamen Kinder umbringen, wenn er den Befehl dazu erhielte, fragt sie? Natürlich würde er es tun, antwortet Höß – sobald er den Befehl bekomme.

Kotulla begnügt sich nicht mit einem Horrorkabinett der versteinerten Gewissen und der betäubten Menschlichkeit wie Glazer. Er schildert „ein deutsches Leben“, er bemüht sich – weitgehend schlüssig – um eine Antwort auf die Frage, wie aus dem Ersten-Weltkrieg-Soldaten Höß der Auschwitz-Höß werden konnte. Glazers Film hingegen wirkt wie eine Bebilderung der schlimmsten Monster aus Hannah Arendts These von der „Banalität des Bösen“. Man muss wohl gerade heutzutage wieder vor der Neugeburt solcher Monster warnen. Aber letztlich springt „The Zone of Interest“ erheblich zu kurz.

P.S.: Rudolf Höß versteckte sich nach dem Krieg auf einem Bauernhof in Schleswig-Holstein und wartete auf die Gelegenheit zur Flucht nach Südamerika. Ein Nazijäger spürte seine Familie auf und zwang Höß’ Frau mit der Drohung, ihren älteren Jungen nach Russland zu schicken, zur Herausgabe der Adresse ihres Mannes. Der wurde festgenommen, in Polen zum Tode verurteilt und 1947 wenige Meter von seiner alten Villa entfernt aufgehängt. Brigitte Höß heiratete einen amerikanischen Ingenieur und lebte lange in Washington; nur ihr Mann wusste von der Familiengeschichte. Hedwig Höß starb 1989 bei einem Besuch im Gästezimmer ihrer Tochter. Martin Amis starb am Tag der Uraufführung des Films in Cannes.

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