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Meinung Theaterklassiker

Antigone, Butscha und zwei neue Großversuche über das Ungeheuer Mensch

Freier Mitarbeiter im Feuilleton
„Antigone in Butscha“ am Schauspielhaus Zürich „Antigone in Butscha“ am Schauspielhaus Zürich
„Antigone in Butscha“ am Schauspielhaus Zürich
Quelle: Philip Frowein
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„Nichts ist ungeheurer als der Mensch“: So hat Hölderlin „Antigone“ von Sophokles ins Neuzeitliche übersetzt. Nun sorgen zwei aktuelle Inszenierungen für Furore. Eine spielt im ukrainischen Butscha, die andere am Amazonas in Brasilien. Wie viel Politik verträgt ein 2500 Jahre alter Klassiker?

Hegel war einer der ersten, der „Antigone“ als Gegenwartsdrama wiederentdeckte. Für den Philosophen zeigte sich in dem Stück der moderne Konflikt zwischen Staat und Familie. Hölderlin, Hegels Jugendfreund aus gemeinsamen Stiftszeiten in Tübingen, schuf eine fulminante Neuübersetzung: „Ungeheuer ist viel. Doch nichts ungeheurer als der Mensch.“ Seit den Tagen Hegels und Hölderlins wird „Antigone“ immer wieder befragt, wenn Moral und Gesetz gewaltvoll aufeinanderprallen. Mit „Antigone im Amazonas“ und „Antigone in Butscha“ gibt es nun zwei neue Großversuche über das Ungeheuer Mensch auf der Theaterbühne.

In belgischen Gent ist Milo Raus „Antigone im Amazonas“ zu sehen: Die Bühne ist mit rötlichem Sand bedeckt, es wird eine Menge Staub aufgewirbelt. Wie ein Triptychon senken sich Leinwände für die Videoaufnahmen aus dem brasilianischen Amazonasgebiet herab. Gemeinsam mit der dortigen Landlosenbewegung hat Rau das Massaker von El Dorado do Carajas nachstellen lassen, bei dem 1996 auf einer Straße 19 unbewaffnete Demonstranten von der Polizei erschossen wurden. Die erschütternde Wiederaufführung, unter anderem mit Überlebenden von damals, zeigt den Kampf der Landlosen und Indigenen gegen die Zerstörung ihrer Lebenswelt – Abholzung des Amazonas, rücksichtslose Suche nach Gold, Großbauprojekte und zerstörerische Landwirtschaft. Kontrastiert wird das mit einer gemeinsamen Aufführung von „Antigone“.

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Es beginnt auf einer staubigen Landstraße, eine Horde Geier umringt einen Kuhkadaver. Es ist keine nette Geschichte, die „Antigone im Amazonas“ erzählt, keine sterile Winckelmann-Antike, sondern ein derbes, grausig-schönes Schauspiel unvereinbarer Lebensformen. Kay Sara, die indigene Schauspielerin der Antigone, ist keine fromme Bürgersfrau, sondern eine von Schmerz und Wut erfüllte mythische Gewalt. Das Gesetz, das sie der Welt von Kreon entgegensetzt, ist das ihrer indigenen Kosmologie. Der Chor, der sie unterstützt, rührt mit seinen Gesängen an eine tiefere Weltbeziehung. Der indigene Philosoph Ailton Krenak sagt in einer Szene, dass der Westen die Apokalypse erst noch lernen muss, während seine Welt bereits seit 500 Jahren untergeht. Solche Endzeitvorstellungen findet man im geruhsamen Gent sonst nicht.

Den Kurzschluss mit der Gegenwart hatte Rau bereits mit „Orest in Mossul“ gewagt. Das antike Rachedrama führte er in der Hauptstadt des „Islamischen Staats“ auf – mit jungen Irakern, die nicht wenig Lust hatten, ein paar der Dschihadisten über die Klinge springen zu lassen, die ihre Freunde und Bekannten ermordet hatten. In „Das Neue Evangelium“ zog es Rau ins süditalienische Matera, wo Pier Paolo Pasolini und Mel Gibson ihre Christusfilme drehten. Auf den Plantagen im Umland schufteten Illegale unter unmenschlichen Bedingungen, die sich wie Jünger um einen charismatischen Intellektuellen scharten, der zur Revolte rief. „Antigone im Amazonas“ ist nun der Abschluss dieser Trilogie von Klassikerbefragungen.

So rätselhaft, so dunkel

Wie Rau Antike und Gegenwart zusammenbringt, pulverisiert nicht jeglichen Deutungsaufwand schon vorab. Umgekehrt sogar: Die antike Tragödie wird einem selbst fremd. Es fällt einem der Hegel-Satz ein, dass das Bekannte darum nicht erkannt ist, weil es bekannt ist, und man fragt sich, was das nur für ein dunkler, rätselhafter Stoff ist. Alles, was man über „Antigone“ zu wissen meinte, wird fragwürdig. Während in Kreisen mit politisch korrekter Müll- und Kulturtrennung Raus „Antigone im Amazonas“ als kulturimperialistisch verachtet wird, stürzt einen der Abend in eine Fremdheit, die jedem Vorwurf kultureller Aneignung spottet. Hier geht es wie bei Montaigne um Selbstkritik im Konflikt. Bei Rau heißt das: Die Kunst kann die Gewalt transzendieren, egal wo.

Oder wird die Gewalt gar zum Transzendenzersatz? In „Antigone in Butscha“ reist eine Kriegsreporterin aus dem beschaulichen Zürich in den durch die Berichte von Massakern berüchtigten Vorort von Kiew. Die Frau, die sie in einem Keller trifft, kann nicht realisieren, dass ihr Mann tot auf der Straße liegt. Es entsteht eine geschwisterliche Freundschaft. Als die Reporterin nach Zürich zurückkehrt, wird ein Foto von ihr aus Butscha zum Marketingerfolg – ausgestellt in Galerien, gedruckt auf Shirts, Mützen und Taschen. Außerdem eskalieren ihre Eheprobleme. Seit „der Hölle von Butscha“ ist der Reporterin die Leere ihrer Lebenswelt unerträglich – die Leere des Wohlstands und der Unterhaltungsindustrie, die Profit aus dem fotografierten Elend schlägt. Am götterlosen Himmel fungiert „Butscha“ als neues Sinnangebot, als Reales in einer Welt der Simulation. Eine Selbsttäuschung?

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Stas Zhyrkov hat den Text von Pavlo Arie am Schauspielhaus Zürich uraufgeführt, wie bei Rau mit kleiner Schauspielertruppe und allerlei Videoeinsatz. Zhyrkov war der Leiter des bekannten Left Bank Theatre in Kiew. Als die russische Armee auf die ukrainische Hauptstadt vorrückte, wurde er von der Regierung nicht an die Front, sondern mit einer Ausnahmegenehmigung ins Ausland geschickt – um als Künstler die Sache der Ukraine zu propagieren. An der Berliner Schaubühne eröffnete er mit „Sich waffnend gegen eine See von Plagen“ die Spielzeit, am Düsseldorfer Schauspielhaus verwandelte er die „Odyssee“ in ein Stück über Ukrainer auf der Flucht. Der Text stammt in beiden Fällen von Arie, der dokumentarisches Material nutzte, um die Vorlagen auf die ukrainische Gegenwart zu münzen.

„Antigone in Butscha“ bezieht sich – anders als „Antigone im Amazonas“ – kaum auf die Vorlage. Dafür hätte die Ukrainerin beispielsweise gegen das Verbot verstoßen müssen, einen russischen Soldaten zu begraben, doch den Namen der Titelheldin trägt – wenig plausibel – die von Lena Schwarz gespielte Reporterin. Der eindrückliche, tränenerstickte Monolog stammt allerdings von der ukrainischen Schauspielerin Vitalina Bibliv aus dem Keller von Butscha, der sich kurz darauf als Kulisse im Zürcher Theater erweist – ein geschicktes Spiel mit Authentizitätseffekten und -erwartungen. Die Botschaft scheint so klar wie das Bühnenbild: Tizians „Raub der Europa“ bedient die verbreitete Vergewaltigungsmetapher, darauf prangt ein riesiger schwarzer Fleck, als hätte die „Letzte Generation“ Hand angelegt. Mehr Message, weniger Antigone?

„Antigone im Amazonas“ kommt aus Gent zu den Wiener Festwochen
„Antigone im Amazonas“ kommt aus Gent zu den Wiener Festwochen
Quelle: Kurt van der Elst

Aktualisierungen von Klassikern haben Grenzen, das wusste niemand besser als Bertolt Brecht, der vom „Antigonemodell“ sprach. Nach dem Zweiten Weltkrieg brachte er in der Schweiz „Antigone“ auf die Bühne, mit aufgelockerter Übersetzung Hölderlins und neuem Vorspiel: Berlin, Frühjahr 1945, zwei Schwestern im Luftschutzbunker, der von der Front getürmte Bruder wird auf der Straße von der Waffen-SS ermordet, Beerdigung bei Strafe verboten. Doch weiter geht es nicht, Brecht bricht das Vorspiel ab.

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Später schreibt Brecht, dass Aktualisierungen Gefahr laufen, das Modell zu verengen. Er wollte einen Hinweis geben, an welche Konflikte man denken könnte, bloß nicht alles erklären. Man kann es sich wie Stützräder vorstellen, die dem Theater helfen, Fahrt aufzunehmen in Richtung Wirklichkeit. Vor allem mit Blick auf „Antigone im Amazonas“ muss man sagen: Es funktioniert. Man muss dafür nicht an Götter oder das Orakel glauben. In der Moderne ist die Politik das Schicksal, wie schon Napoleon sagte. Und das Ungeheuer Mensch? Es könnte, glaubt man dem Theater, in der jetzigen Epoche noch ungeheurer zu werden.

„Antigone im Amazonas“ tourt nach Vorstellungen in Gent durch Europa, „Antigone in Butscha“ ist am Schauspielhaus Zürich zu sehen.

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