Beide zählen zu den bedeutendsten schwedischen Schriftstellern des 20. Jahrhunderts und wurden zu Lebzeiten immer mal für den Nobelpreis gehandelt. Sie sind ein höchst unterschiedliches Paar, allein schon, was die Körpergröße betraf: Per Olov Enquist, Jahrgang 1934, der 1,97 Meter große Sohn eines Holzfällers und einer Dorfschullehrerin, ein Hochspringer aus dem Norrland, der höher springen konnte als die meisten Schweden – und der um zwei Jahre jüngere, körperlich deutlich kleinere, fast knorrige Lars Gustafsson aus Västervåla. Beide studieren 1955 Literatur an der Universität Uppsala und bewohnen im ersten Studienjahr als Untermieter eine Zweizimmerwohnung im Zentrum der Stadt in der Bredgränd 7 bei einem Schwesternpaar namens Rothvik, beide um die 80.
Gustafsson ist erst 17 Jahre alt, aber bereits Student. Für seinen Kommilitonen Enquist legt das den Verdacht nahe, er sei wohl ein Genie. Enquist stellt sich den Vermieterinnen als „gläubig und ordentlich“ vor, weder trinke noch rauche er. Das sollte sich in späteren Jahren allerdings ändern und zu einem schmerzhaften, jedoch auch literarisch verarbeiteten Prozess führen, wie sein autobiografisches Werk „Ein anderes Leben“ beweist. Die beiden eher scheuen Studenten kommen sich langsam näher, sie zeigen sich gegenseitig ihre ersten literarischen Versuche, Gedichte zumeist, und sie diskutieren über handwerkliche Probleme beim Schreiben. Das ändert jedoch nichts an ihren unterschiedlichen Charakteren. Jeder bleibt gerne für sich, eigenartig ist jeder auf seine Art.
Schwesternstreit im Hause Rothvik
Das gilt auch für die Vermieterinnen, die Schwestern Rothvik: Die eine ist absonderlich dick, die andere dürr und fast ausgemergelt, aber sie sind einander in inniger Hass-Liebe verbunden. Die jeweils andere ist intrigant, boshaft, heimtückisch und verlogen. Beide Frauen ziehen nach und nach die jungen Männer in ihren Privatkrieg hinein, buhlen, jede für sich, um ihre Parteinahme und Unterstützung. Zentrum der geflüsterten Beichten und Bekenntnisse ist die Küche. Viele Tränen fließen.
Eines Vormittags sitzt Enquist über seinem Romanmanuskript, als er ein gewaltiges Poltern in der Küche hört, das mit einem Gurgeln endet. Die dicke Schwester ist mit der Schläfe gegen die blechverkleidete Eckkante des Spülbeckens gefallen und hat sich den Schädel aufgeschlagen. Blut und Hirnmasse bedecken den Boden. Die andere Schwester schreit verzweifelt, jammert und schluchzt, wie konnte ihr das die Schwester nur antun. Nach einer Stunde kommt die Polizei und fragt, ob es hier einen Todesfall gegeben habe. Student Enquist sagt: „Sie kommen zu spät, wir haben schon alle Beweise weggeschrubbt.“ Gustafsson lacht nervös hinter seinem Rücken, aber die Polizisten lachen nicht.
Beide Studenten geraten kurzfristig unter Mordverdacht, die Sache klärt sich jedoch rasch auf. Eine Woche nach dem Unfall ziehen Enquist und Gustafsson aus und gehen getrennte Wege. Sie sehen sich nur noch selten. Enquist schreibt nach Ende des Studiums Romane und Theaterstücke, Essays und Kinderbücher, er berichtet als Reporter und Augenzeuge über die Olympischen Sommerspiele 1972 und über die Geiselnahme in München. 1994 bespricht „Das Literarische Quartett“ im ZDF Enquists Kindheitsroman „Kapitän Nemos Bibliothek“. Gustafsson, seit den 1970ern bekannt durch seine Romanreihe „Risse in der Mauer“, habilitiert sich 1979 und lehrt von 1983 bis 2006 als Professor für Germanistische Studien und Philosophie in Austin, Texas. Er stirbt 80-jährig am 3. April 2016 in Stockholm, Per Olov Enquist hochbetagt mit 86 Jahren am 25. April 2020 in Vaxholm.
Alles Schriftstellerleben sei Papier, heißt es. In dieser Reihe treten wir den Gegenbeweis an.