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Kultur Eurovision Song Contest

Falscher Abend, falsches Publikum, falsche Jurys

Freier Feuilletonmitarbeiter
67. Eurovision Song Contest - Finale 67. Eurovision Song Contest - Finale
Das ukrainische Duo Tvorchi singt „Heart Of Steel“ beim Finale des 67. Eurovision Song Contest in Liverpool
Quelle: dpa/Peter Kneffel
Musikalisch hatte dieser Eurovision Song Contest wenig zu bieten. Vor allem aber war das wegen des Ukraine-Kriegs nach Liverpool verlegte Event eine große Beschwichtigungsveranstaltung. Und der erfolglose Versuch, die Weltpolitik auszublenden.

Loreen aus dem Abba-Land Schweden hat geschafft, was bisher nur dem Iren Johnny Logan gelungen ist: Sie hat den Eurovision Song Contest zum zweiten Mal gewonnen. Bei Logan war das 1980 mit „What’s Another Year“ und 1987 mit „Hold Me Now“. Bei der Schwedin mit berberisch-marokkanischen Vorfahren gelang es nach „Euphoria“ 2012 nun 2023 in Liverpool mit „Tattoo“. So wird der ESC 2024 wohl in Stockholm ausgetragen – 50 Jahre nach dem Abba-Sieg mit „Waterloo“, 1974 in Brighton.

Und Deutschland? Lord of the Lost, die ordentlichen Hard Rocker aus St. Pauli, die von den Buchmachern immerhin im soliden Mittelfeld angesiedelt worden waren, landeten mit 18 Punkten auf dem letzten Platz.

Das verwundert, sowohl bei der Ersten wie bei uns Abgeschlagenen. Die dauermeditierende Schweden-Lady (oder sind da andere Substanzen im Singspiel?) wirkte auch hinter der Bühne weggetreten und verstrahlt. Und eigentlich ist ihre Performance ziemlich öde. Sie kam wieder mit demselben Kreativteam wie 2012 (einer der Komponisten, Thomas G:son, ist schon zum 16. Mal beim ESC dabei; Ralph Siegel ist mit 24 Mal freilich nicht zu toppen). Loreen trat auf als weinerliche Primaten-Primadonna mit Nude-Make-Up in einer sandfarbenen Sandwichscreen-Kiste und sang davon, dass ihr Lover, der gehen soll, an ihr wie ein „Tattoo“ klebt.

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Sängerin Loreen aus Schweden
Quelle: AFP/OLI SCARFF

Ihr Outfit, die Zottelhaare wie die XXL-Fingernägel, die pseudolasziv über ihre beigen Liebestöter-Dessous streichen, ist im Vergleich zu den meisten der anderen Teilnehmer ziemlich grenzwertig. Und der langsam sich steigernde, überschwappend gefühlige Song macht es auch nicht wirklich wett. Und warum denkt man bei jedem Aufschwung an Abbas „The winner takes it aaaall“? Gibt es in Schweden keine anderen Vokalhappen? Früher waren die kreativer am Schlager-Smörgåsbord. Ganz zu schweigen von der drögen Bodenturngymastik. Am Ende verrauchte Loreen auf ihrem Dune-Walkürenfelsen.

Lord of the Lost wirkte erstaunlich authentisch

Da waren die ans Ende verbannten Deutschen erfrischender. Aus dem Land der zum Fremdschämen peinlichen Casting-Acts die immer geschmacklich daneben lagen, und wo seit Lena Meyer-Landrut und ihrem – nach Nicole 1982 in Harrogate – zweiten deutschen ESC-Sieg überhaupt, 2010 in Oslo mit „Satellite“, nichts Nennenswertes mehr kam, wirkte die immerhin seit 2007 existierende Hamburger Band erstaunlich authentisch.

Die Deutschen wollte es diesmal richtig pyramidal krachen lassen. Mit einem gerupften Papagei als Frontmann, der „Blood and Glitter, Sweet and Bitter“ grölt und knurrt. Doch irgendwie mochte man den im ESC-Land nicht als Song-Abgesandten der Nation wahrhaben. Chris Harms, der androgyne Duke of Darkness, der noch „Liverpool, make some noise“ zum Auftakt geschrien hatte, stand in einem Neon-Dreieck, haute in die Gitarren und knallte seinen ehrlichen Dunkel-Rock heraus.

Britain Eurovision Song Contest Grand Final
Die Hamburger Band Lord of the Lost
Quelle: AP/Martin Meissner

Das sah aus wie Rammstein auf einer Vampirparty, und Harms gab mit Verve den gefallenen Fetisch-Engel im roten Gummianzug mit zerfetzten Flügeln und der Reibeisenstimme des auferstandenen Herman Brood. Sicher das Ungewöhnlichste, was Deutschland seit Guildo Horn 1998 zum Song Contest geschickt hat. Nur diesmal völlig ironiefrei.

Ok, es war eine steife, überraschungsfreie Präsentation. Nur Feuergarben im Finale reichen nicht. Aber so desaströs abgeschlagen, noch dazu nach der portugiesischen Flamenco-Jule, dem serbischen Selbstmitleid-Narziss und den inzwischen dauerschwachen Briten mit der drögen Mae Muller und ihrem patenten Racheliedchen „I Wrote A Song“, das haben Lord of the Lost nicht verdient.

Peter Urban auf dem Weg in die ESC-Rente

„Ich bin gespannt wie ein Flitzebogen“, hatte selbst ESC-Kommentatoren-Urgestein Peter Urban vom ausrichtenden NDR noch zum Auftakt der Startnummer 21 zu hoffen gewagt. Um am Ende entgeistert zu stammeln: „Der falsche Abend, das falsche Publikum, die falschen Jurys.“ Seit 1997 war Urban dabei, nach der diesjährigen ESC-Ausgabe wird er in die wohlverdient ewigen Schlagerjagdgründe trappeln.

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Kein wirklich starker ESC-Jahrgang, das für die von Russland angegriffene Ukraine von England in Liverpool in der M&S Bank Arena unter dem Motto „United By Music“ ausgetragene Tralala-Event 2023. Entweder glatter Mainstream-Pop für die Aufzüge der gehobenen Riu-Herberge auf Malle oder seltsame, nicht dechiffrierbare Landesklänge in Einzelhäppchen – das schien in diesem Jahr der musikalische Trend zu sein. So rast die fetzenhafte TikTokisierung voran: Die meisten Songs zerhacken sich immer mehr in vier, fünf postbare Momente für Nicht-Mehr-Aufmerksame im Netz.

So wurde alles gleicher und langweiliger bei den 20 Songs der zunächst in zwei Halbfinals aus 31 Teilnehmern gewählten Endrunde – plus den Beiträgen des Gewinnerlandes 2022 und der Big Five England, Italien, Spanien, Frankreich und Deutschland, die stets für das Finale gesetzt sind. Die Rezepte waren schnell durchschaubar. Trash-Highlights, früher die geile Würze in der konform brodelnden ESC-Suppe, wurden seltener, im Grell-Guten wie im Grottig-Schlechten.

67. Eurovision Song Contest - Finale
Käärijä (M.) aus Finnland singt „Cha Cha Cha“
Quelle: dpa/Peter Kneffel

Und über allem schwebte, trotz heftigster Eskapismus-Bemühungen immer das düstere Weltgeschehen. Der Maidan mit dem Unabhängigkeitsmonument in Kiew – er war nur eine von vielen kunterbunten, kurz vorbeiflimmernden Touristikvignetten in diesem immer surrealeren, perfekt fernsehaufbereiteten Träller-TV-Topper namens Eurovision Song Contest. Hier ist alles glatt und kantenlos, die gute Laune hört niemals auf – obwohl der Hintergrund ein bitterernster ist. „Schwere Beats in schweren Zeiten“, philosophierte sogar Peter Urban.

Im vergangenen Jahr hatte in Turin die Ukraine gewonnen, damals schon wochenlang im Krieg gegen den russischen Aggressor. Der Sieg war nicht aus Mitleid geschehen, sondern weil Kalush Orchestra mit „Stefania“ witzig und gut waren. Wie sehr hätte man sich deshalb einen ESC 2023 in einem wieder befriedeten Kiew gewünscht!

Aber just in dem Moment, in dem sich aus dieser immer noch kämpfenden Nation ihr Präsident Wolodymyr Selenskyj nach Deutschland begibt, sehen wir eine auch von Deutschland maßgeblich mitfinanzierte Beschwichtigungsveranstaltung, die Großbritannien als damals zweitplatzierter Ersatz in der längst gentrifizierten Beatles-Stadt Liverpool ausrichtet – und die bitter schmeckt.

Der Versuch, die Weltpolitik zu umgehen

Natürlich hätte man den ESC auch in Lwiw oder anderen, relativ sicheren ukrainischen Landesteilen austragen können. Aber dann wäre er für alle das geworden, was er ohnehin ist, obwohl die Veranstalter das verneinen: ein Politikum. Ein aufrecht stehendes Politikum, das den Schlager als Waffe der Kunst versteht. Jetzt aber war es ein verkrampfter Akt der Rechtfertigung mit einem dauerhaft schlechtem Gewissen. Denn natürlich kann man die Weltpolitik nicht ausblenden, aber man sollte sie nicht so verschämt umgehen und dann doch aufblitzen lassen, wie es jetzt beim ESC 2023 geschehen ist, bei dem Russland und Belarus selbstverständlich ausgeschlossen waren.

Da sind zwei der vier Präsentatoren (drei Damen, ein Herr) vor allem gelb-blaue Kleiderpuppen im paritätischen Farbenwechsel, aufgeputzt wie Christbaumkugeln, (die ukrainische Popsängerin Julija Sanina und ihre englische Kollegin Alesha Dixon). Die dritte, die Musicaldarstellerin und Filmschauspielerin Hannah Waddingham, zeigt viel nackten Oberkörper in Wechselrosa (die wirkliche Fanfarbe des ESC?), und der Mann (der irische BBC-Moderator Graham Norton) macht sich in Schwarz mit dezentem Glitzerlaub vorhersehbar unsichtbar; er schmeißt dafür mit Popcorn und will Pizza.

67. Eurovision Song Contest - Finale
Loreen (Mitte r.) aus Schweden jubelt nach ihrem Sieg beim ESC-Finale in der M&S Bank Arena
Quelle: dpa/Peter Kneffel
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Dazu poppen neben dem nichtssagenden Motto „United in Music“ dauernd atmende Herzen im Eiscremefirmen-Logo-Look als knutschige Solidaritäts-Diddlmaus auf. Und vor jeder Nummer zeigen hektische Einspieler Sehenswürdigkeiten in der Ukraine, Großbritannien und dem jeweiligen Teilnehmerland. In der Wartepause darf die ukrainische Flüchtlings-Fankurve jubeln, einen ukrainischen Hilfskommentator gibt es auch noch. Aber Wolodymyr Selenskyj durfte nicht sprechen – obwohl er sicher auch hier die angemessenen Worte gefunden hätte.

Dafür gibt es in der langen Auszählpause den letztjährigen Zweiten Sam Ryder als Ersatz-Jesus-Christus neben „versehrten“ (Peter Urban) Menschen in echten Rollstühlen und wirklichen Prothesen, und an den Drums sitzt Rodger Taylor von Queen. Der Wohlfühl-Nostalgie nicht genug: Zum „Liverpool Songbook“ knödelte an diesem Abend der jaulenden Weinmänner ein weiterer John Lennons „Imagine“. Dann throhnte noch Israels Netta auf einer Riesen-Swarovski-Friedenstaube als schwarze Kompressions-Queen mit aufblasbaren Flügeln.

Garantiert keimfreie ukrainische Solidaritäts-Einsprengsel

Schließlich sangen alle „You never walk alone“, die arg abgenudelte Stadionhymne des FC Liverpool – natürlich wieder mit garantiert keimfreien ukrainischen Solidaritäts-Einsprengseln. Die grausam tödliche, brutal menschenverachtende Realität dieses Kriegs bleibt konsequent außen vor. Hier wird nur sachte mit dem Desaster geflirtet.

Björn Ulvaeus darf natürlich Werbung für die Abba-Industrie machen. Diese Nabelschau beschwört beständig „die Magie von Musik und Schönheit“. Wie sah die zum Beispiel bei der Ukraine aus, die diesmal einen ehrenvollen sechsten Platz erreichte? Sie konterte mit der Zweikopf-Band „Heart of Steal“. Da war natürlich alles konkret, nichts symbolisch gemeint. Und deshalb haute erst mal ein Kommander in die Key-Board-Tasten als drücke er Raketenauslöseknöpfe.

Dann stand da ein geschmeidig schwankender Sänger aus Nigeria mit Sonnenbrille und stimmte ein sanftes, nur wenig elektrogepanzertes Lied als stählerner Terminator hinter vier gelben Videoschirmen an. Sehr ästhetisch, auch die weitere Bilderschau, sanft, nie aggressiv wurde etwa mit der Weltkugel gespielt. Beeindruckend, kein Siegertitel, aber eine gelungene Schlagerantwort auf die andauernde Katastrophe, gewidmet den Kämpfern im Stahlwerk von Mariupol.

Bis zuletzt war dieser ESC 2023 ein Platzkampf zwischen Schweden, Finnland, Israel und Italien. Käärijä mit „Cha Cha Cha“, das war durchgeknallter Träller-Trash, wie er längst zum finnischen ESC-Markenzeichen geworden ist. Das knallte vom Anfang bis zum Ende, im landestypisch harten Stentorgeschrei. Ein züngelnder Halbnackter mit Prinz-Eisenherz-Haartopf und erbsengrünen Puffärmel-Nix aus der Kiste spielte den HipHop-Kermit. „It’s crazy, it’s party“, schickten versierte Fest-Crasher ihrem pumpenden Schlager-Brüller als Resümee hinterher. Sie waren bunt, harmlos, schrill, vorhersehbar. Der echte Stoff, aus dem ESC-Träume sind.

Italo-Schmeichler und blasse Mädels in schrecklichen Kleidern

Israels Noa Kirel stieg als dort bekanntes Star-Mädel in Cargopants und weißem Bustier einmal öfter durch einen Neontreppenkäfig. Sie sang ruhig und abwartend davon, ein Einhorn sein zu wollen: Schlagerpoesie eben. Mächtig schwang sich die Stimme zur Saaldecke. Im schnelleren Teil kamen ein paar flirtende Tänzer hinzu. Ein flottes Discoliedchen, das man dann hören mag, wenn man zur Bar enteilt. „It’s gonna be phenomenal“: Kirel versuchte in letzter Minute noch den Dance-Stimmungsumschwung inclusive Floor Diving, aber eigentlich blieb ihr Unicorn ein Pony von gestern.

Marco Mengoni war bereits 2013 für Italien dabei, ein smarter, gelockt-bärtiger Ragazzo in gemäßigt metrosexuellem Armlos-Glitzerperlenshirt und Lederhosen. Er sang von „café con limone“ gegen den Kater – in ewig säuselnd gänsehautmachender Eros-Ramazotti-Manier. Das war schon mal ein Asset, wenn auch meilenweit von der unitalienischen Måneskin-Manier vom ESC 2021 entfernt. Der ehrlichste Song des ESC-Abends, con tutti emozioni, tolle Stimme, schöne Melodie, ein echter Italo-Schmeichler.

67. Eurovision Song Contest - Finale
Marco Mengoni aus Italien singt „Due vite“
Quelle: dpa/Peter Kneffel

Und sonst? Blasse Mädels in schrecklichen Kleidern aus Estland (8. Platz) und Litauen (11. Platz). Eine voguende Boy-George-Kopie (Gustaph) aus Belgien, schon zum dritten Mal dabei und auf Platz 7. Auf Platz 5 eine bisexuelle Queen of Thrones aus Norwegen mit Mittelalter-Mitklatsch-Hymne.

Auf Platz 9 kamen die rockenden Australier mit einem Leadsänger aus dem niedersächsischen Buchholz. Mit den tschechisch friedensbewegten Rosa-Girlies von Vesna, die trotzdem die Zopfpeitschen schwangen (Platz 10), einem larmoyanten Urschreier aus Zypern (Platz 12) und der superschrillen Opa-Truppe Let 3 aus Kroatien mit „Mama ŠČ“, Village People verkocht mit Gilbert & George zum surreal singenden Djuvec-Reis, war die bessere Hälfte der Teilnehmer komplett.

Am Ende hielt das ukrainische Duo Tvorchi ein Schild mit dem Namen ihrer Heimatstadt Ternopil hoch: Die nämlich wurde an diesem ESC-Abend 2023 von Raketen aus Russland beschossen.

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