Der Tag, an dem die Diva starb, jenes Phänomen, das die Literaturwissenschaftlerin Elisabeth Bronfen einmal als „Unfall im Zeichensystem des Starkults“ bezeichnet hat, lässt sich exakt datieren. Es war der 16. September 1977. Da starb in Paris die Sängerin Maria Callas.
Die letzte jener fernen, singenden Gottfrauen, die nur auf der Bühne wirklich lebten, auf der sie nach dem Willen ausnahmslos männlicher Librettisten und Komponisten ständig sterben mussten, angebetet, einsam, unnahbar, aber verzweifelt angewiesen auf ein bewunderndes Publikum.
Der Moment, an dem der Begriff „Diva“ endgültig zum Inbegriff des Zickigen heruntergekommen war, von allem göttlichen Bezug befreit, kam im Jahre 2010 in einem Werbespot für einen Schokoriegel. Darin war Aretha Franklin zu sehen, die in einem Auto mit drei Jungs durch die Gegend fuhr.
Sie war sehr schlecht gelaunt. Bis zu dem Moment, als ihr einer der Jungs bewussten Riegel aufnötigte, weil sie unterzuckert immer zur anstrengenden Diva würde. Kaum war der Riegel angenagt, war Aretha weg und infolge eines genderfluiden Wunders saß ein blasser Junge an ihrer Stelle.
Das war jetzt eine sträflich unvollständige Zusammenfassung der Divengeschichte. Sie hat aber den Vorzug, dass sie zu ihrer Phänomenologie mehr leistet als Barbara Vinkens 400 Seiten dickes Buch, das „Diva“ zum Titel hat. Vinken – Literaturwissenschaftlerin, Modetheoretikerin, Opernliebhaberin – wollte kein Buch über Diven schreiben (das gibt es seit 2002 von Bronfen und Barbara Straumann, Vinken erwähnt es nicht).
„Diva“ ist „Eine etwas andere Opernverführerin“. Für diesen Untertitel möge, wer immer ihn erfunden hat, ziemlich lange von den Erinnyen des Buchmarkts gejagt werden.
Schmaler Ausschnitt der Operngeschichte
„Warum“, fragt Vinken sich selbst in einem Akt der Vorwärtsverteidigung im Vorwort, „überhaupt ein Buch zur Oper, die man als elitär unkritisches Divertissement abgetan hat, in dem hauptsächlich geschmäcklerische Kennerschaft zählt“.
An Versuchen, das „unmögliche Kunstwerk“ Oper zu erklären, eine immer neue Generation zu begeistern, es mit dem jeweils neuen analytischen Besteck zu sezieren, herrscht ja kein Mangel. Den Vorwurf des „elitären Divertissements“ gegenüber der Oper, den längst niemand mehr ernsthaft erhebt, zitiert sie als einen potemkinschen Popanz, dessen dünne Wände sie im Folgenden mit ganzen argumentativen Koloraturkaskaden einzureißen versucht.
Vinkens Ausschnitt der Operngeschichte ist schmal. Sie tut so, als hätte es vor Mozart und nach Bergs „Lulu“ nichts gegeben. Wagner ignoriert sie. Er stünde ihr beim Versuch im Weg zu beweisen, was die gängige Musiktheaterpraxis seit einiger Zeit beweist: dass die Oper der aufregendste Spiegel aktueller Genderdebatten ist, dass sich in den Texten, in den Noten (die bei Vinken eher keine Rolle spielen) alles findet, was uns heute umtreibt.
Allerdings tut Vinken das auch mit durchaus unlauteren Mitteln. „Der Kastratengesang der Königin der Nacht“, so steht im „Zauberflöten“-Kapitel, „verrät die behauptete, natürliche binäre Ordnung des Aufklärungsdiskurses als interessengeleitete Ideologie; lieblos ist sie machtbesessen. Was von der ‚Zauberflöte‘ im Ohr bleibt, ist die künstlichste, nicht-binäre Stimme der Königin. Die Oper widerruft die bürgerlich pathologische Behauptung einer so natürlichen wie hierarchisierten Geschlechtsidentität.“
Das Problem dabei ist nicht nur, dass mindestens ebenso sehr die Stimme des zutiefst menschlichen und total binären Vogelwesens Papageno im Ohr bleibt. Sondern dass die ganze Kastratengeschichte nicht stimmt. Sie würde nur stimmen, wenn im Barock (Händel und Vivaldi lässt Vinken vorsichtshalber weg) tatsächlich nur Kastraten Frauenrollen gesungen hätten. Ein Blick auf Händel zeigt, dass das mitnichten der Fall war.
So geht das dauernd: Mal ist der Leser verblüfft von elitären Zusammenhängen, die sie aus dem Füllhorn ihres Wissens zaubert, mal ärgert er sich schwarz über Allgemeinplätze (Protagonist im „Rosenkavalier“ ist die Zeit!), über die ständige Verwechslung des Anteils von Komponisten und Librettisten an einer Oper, über die Selbstentblößung ihrer vollkommenen musikalischen Unbedarftheit. Man will ständig in Schokoriegel beißen.