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Literatur Holocaust-Tagebuch

„Ich sitze mitten in einem vollen Güterwaggon“

Redakteur im Feuilleton
Etty Hillesum im Alter von 23 Jahren Etty Hillesum im Alter von 23 Jahren
Etty Hillesum im Alter von 23 Jahren
Quelle: Jüdisches Museum, Amsterdam
Eine junge Frau erlebt und notiert die Verbrechen der Nazis an den Juden in den Niederlanden. Warum das Protokoll der Etty Hillesum so spektakulär ist wie das Tagebuch der Anne Frank – nur für Erwachsene.

Als die „Literarische Welt“ vor fünf Jahren eine Umfrage veranstaltete und von Autorinnen unserer Zeit wissen wollte: „Welche Frau gehört für Sie in den Kanon?“, da nannte die für ihre „Naturkunden“-Reihe im Verlag Matthes & Seitz bekannte Herausgeberin Judith Schalansky einen Namen: Etty Hillesum. Schalansky rühmte die Tagebücher der in Auschwitz ermordeten holländischen Jüdin für ihre „kühnen Gedanken und Weisheiten“.

Tatsächlich entdeckt man hier ein apartes psychoanalytisches Selbstgespräch, wie man es noch selten gelesen hat. In Forscherkreisen, die sich mit weiblichen Perspektiven auf die Schoah beschäftigen, oder auch unter Experten moderner Mystik hat Hillesum schon länger einen Namen. Man konnte ihre Texte auch schon in den vergangenen Jahrzehnten in Auszügen auf Deutsch lesen (ab 1983 im Kerle-Verlag, dann im Rowohlt-Taschenbuch und zuletzt bei Herder). Doch vollständig ins Deutsche übertragen sind die Tagebücher und Briefe der Amsterdamer Chronistin erst jetzt.

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Etty (Esther) Hillesum wurde am 15. Januar 1914 im niederländischen Middelburg geboren. Die Eltern (Vater: Lehrer für klassische Sprachen, Mutter: eine gebürtige Russin, 1907 eingewandert) waren assimilierte Juden; ihre Tochter studierte Jura in Amsterdam. Während der deutschen Besatzung der Niederlande im Zweiten Weltkrieg führte sie Tagebuch. Es umfasst elf Hefte und einen Zeitraum vom 8. März 1941 bis zum 13. Oktober 1942. Die Briefe reichen bis September 1943.

Was ist das Besondere an Hillesums Zeitzeugenschaft? Ihr Werk gibt nicht nur Auskunft über das tragische Schicksal der jüdischen Bevölkerung in den von den Nazis besetzten Niederlanden; in dieser Hinsicht ist es – wie das weltberühmte, ebenfalls in Amsterdam entstandene Tagebuch von Anne Frank – ein Seismograf der wachsenden Diskriminierung bis hin zur Deportation. Hillesum war im sogenannten Judenrat tätig und deshalb nicht sofort interniert, aber über die Bedingungen im Bilde, das Lager Westerbork wie die Abtransporte von dort nach Polen.

Ihr letztes schriftliches Zeugnis, datiert auf den 7. September 1943, hat Hillesum aus dem von Westerbork Richtung Auschwitz rollenden Zug geworfen: „Ich sitze mitten in einem vollen Güterwaggon auf meinem Rucksack. Vater, Mutter und Mischa sitzen einige Waggons weiter. Der Aufbruch kam doch ziemlich unerwartet. Plötzlich ein Befehl für uns speziell aus Den Haag. … Wir werden drei Tage unterwegs sein. Danke, dass ihr euch so lieb um uns gekümmert habt.“ Man hat diese an eine Freundin adressierte Postkarte an den Gleisen bei Nieuweschans gefunden – dem Roten Kreuz zufolge ist Etty Hillesum am 30. November 1943 in Auschwitz umgekommen, während für den Tod der Eltern der 10. September 1943 angegeben wird – was auf sofortige Vergasung bei Ankunft hindeutet. Auch Etty Hillesums Bruder Mischa und ihr zweiter Bruder Jaap überlebten nicht. Drei Viertel der 140.000 Juden, die in den Niederlanden lebten, wurden im Holocaust ermordet.

Eine Psychoanalyse in Tagebuchform

Was Hillesums Tagebuch und Briefe über den Charakter einer bloßen Zeitzeugenschaft hinaus zu einer einzigartig individuellen Stimme macht, ist die bereits erwähnte selbsttherapeutische, intime Dimension ihrer Notate. Die kommt nicht von ungefähr: Hillesum verkehrte ab März 1941 in der Amsterdamer Praxis des Psychochirologen Julius Spier – der hatte bei Carl Gustav Jung in Zürich studiert und die Kunst des Handlesens (Chirologie) in die Psychoanalyse integriert. Seit 1929 betrieb er eine entsprechende Praxis in Berlin, mit der er – als Jude zur Emigration gezwungen – 1939 nach Amsterdam umzog. Spier riet Hillesum, Tagebuch zu führen. Dass es für sie nicht nur therapeutische, sondern literarische Zwecke erfüllte, offenbart sich auf stupende Weise.

Hillesum hinterließ 1281 beschriebene Seiten Tagebuch
Hillesum hinterließ 1281 beschriebene Seiten Tagebuch
Quelle: Jüdisches Museum, Amsterdam

Viele Tagebucheinträge behandeln sehr persönliche, auch sexuelle Belange, und große Teile bezeugen die intellektuelle und zunehmend mystische Selbstfindung einer jüdischen Frau, die auf interessante Art und Weise auf der Suche nach sich selbst und dem Gott der Bibel war. Die Augustinus liest. Und immer wieder Rilke. „Ich beschäftige mich eigentlich ununterbrochen mit ihm, das passiert so ganz von allein, ich habe das früher nie so gekannt, dass man einen Autor vollständig in sich aufnimmt und mit ihm verwächst.“ Von allzu esoterischer Frömmigkeit ist dieses Werk gleichwohl weit entfernt, eher fühlt man sich im Genre der Lagerliteratur manchmal an den zupackenden Eigensinn der Italienerin Luce d’Eramo („Der Umweg“) erinnert.

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„Ich will Chronistin dieser Zeit werden“ ist trotz der schlimmen Zeit, von der es erzählt, ein zutiefst emanzipiertes Buch, weil es zeigt, welche geistigen, seelischen und körperlichen Freiräume sich Menschen auch unter menschenfeindlichsten Bedingungen schaffen können: „Natürlich, es ist die vollständige Vernichtung, aber lasst sie uns doch zumindest mit Anmut ertragen.“ Zur Souveränität der Etty Hillesum gehört auch, dass sie ihre Tagebücher, die ihr so viel bedeuteten, rechtzeitig vor ihrer Deportation in sichere Hände zu übergeben wusste.

Etty Hillesum: „Ich will die Chronistin dieser Zeit werden“. Sämtliche Tagebücher und Briefe. C.H. Beck, 989 Seiten, 42 Euro

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