Von Franz Hessel stammt der Satz „Paris ist schwer“. Er bezog sich auf die deutschen Emigranten. Aber Paris ist auch für Franzosen schwer. Besonders für solche, die von außen und von unten kommen. Beides trifft zu auf Albert Camus, Literaturnobelpreisträger des Jahres 1957 und einer der einflussreichsten Schriftsteller Frankreichs im 20. Jahrhundert: Er wurde in Algerien geboren, und er wuchs dort in Armut auf.
Nach schwärmerischen Anfängen als poetischer Essayist hatte er 1942 seinen Durchbruch mit dem Roman „Der Fremde“. Prompt erlebte Camus, was immer schwer zu verkraften ist, einen kometenhaften Aufstieg. Auf einmal sah sich der junge Mann, der kein Hehl aus seiner Verachtung für Salons machte, als Liebling einer Gesellschaft, für die literarische Salons das Höchste der Gefühle waren. Hinzu kam, dass der Naturbursche ziemlich cool aussah. Kurzum, er wurde in Paris, wo er nun natürlich lebte, von Männern umschmeichelt, von Frauen angehimmelt.
Als Autor sowie nicht zuletzt als Lektor des einflussreichen Verlags Gallimard war der Mann, der das einfache Leben (bevorzugt am Mittelmeer) liebte und lobpries, nun auch ein Teil jenes Jahrmarkts der Eitelkeiten, der wohl nirgends so feinverästelt und hochgerüstet ist wie in der Hauptstadt der civilisation française. Und die galt für kultivierte Menschen damals noch immer als das Maß aller Dinge.
Diesen Widerspruch hat Camus tief empfunden. Nach außen hin ertrug er ihn tapfer, zumal Erfolge, Ehrungen nicht abrissen; bis zu seinem frühen Tod – er starb 1960 mit 46 Jahren – führte er ein Leben auf der Überholspur. Doch in seinem Inneren gärte es. Natürlich gab es Ablenkung genug: das Theater, dem sein besonderer Ehrgeiz galt; das Absurde und seine Überwindung, was seine philosophischen Anliegen wurden; den Streit mit dem Erzrivalen Sartre; nicht zuletzt die drängende Frage, was aus seinem geliebten Algerien werden sollte. Doch der sensible, innerlich ungefestigte, noch dazu schwer kranke Mann kannte immer häufiger die dunklen Momente, in denen ihm sein Leben schal wurde.
Von diesem geheimen Konflikt sprechen vor allem zwei späte Texte: melancholisch das Vorwort zur Neuauflage seiner wunderschönen Jugendträumereien „Licht und Schatten“ von 1958; voller Hass und Häme sein dritter Roman „Der Fall“, der im Jahr davor erschien. Er ist jetzt in einer Neuübersetzung erschienen. Sie bringt das Kunststück fertig, einerseits heutig daherzukommen und andererseits der gedrechselten, mitunter schleimigen Figurenrede gerecht zu werden, in der sich der Sprecher ergeht.
Antwort auf Simone de Beauvoir
Camus tritt in „Der Fall“ als Autor vollkommen zurück und lässt den „Bußrichter“ Jean-Baptiste Clamence seine Lebensbeichte ablegen. Eine Beichte, die zugleich eine Abrechnung mit dem modernen Menschen speziell Pariser Machart darstellt. Und das in Form eines Wortgewitters, das im Werk von Camus einzigartig dasteht. Man muss den „Fall“ wohl auch als Antwort auf den Kultroman „Die Mandarins von Paris“ lesen, mit dem Simone de Beauvoir 1954 den Prix Goncourt gewonnen hatte. Hier spreizte sich die Pariser Intelligenzija in all ihrer Selbstherrlichkeit. Zumindest an hochtrabender Geschwätzigkeit steht der schmale Band von Camus der Beauvoir-Schwarte in nichts nach.
Nur dass bei Camus nur einer spricht. Dabei parodiert dieser eine das „Reflexionsniveau“ der Intellektuellen von damals – hier als die „professionellen Humanisten“ karikiert –, indem sich Monsieur Clamence als einen „Gefallenen“ aus ihrer Gilde darstellt. Einst erfolgreicher Anwalt, bemüht edel, hilfreich und gut, entdeckt er eines Tages, dass dies alles nur Schaumschlägerei gewesen ist. Es folgt die Selbstdemontage, parallel zur Demaskierung aller anderen. Überall nur Eitelkeit! Je mehr die an fünf Nächten und auf Spaziergängen durch ein nebelverhangenes Amsterdam geäußerte anspielungsreiche und mit vielen christlichen Versatzstücken operierende Selbstanklage von Clamence voranschreitet, desto mehr wird deutlich, dass auch hinter seinem „Mea culpa“ nur der geheime Wille steckt zu herrschen – und dann sogar beherrscht zu werden. Das Ende ist Delirium und ein perverses Lechzen nach Bestrafung.
So ist „Der Fall“ als persönliches Frustrationsprotokoll gut, als Intellektuellenparodie gescheitert, denn Camus bleibt zu sehr bei seinen eigenen Problemen. Wie gut, dass er ein Jahr später „Licht und Schatten“ noch einmal herausgebracht hat. Dort verbreitet sich das Licht, das hier in Schatten verschwindet.
Albert Camus: Der Fall. Aus dem Französischen von Grete Osterwald. Rowohlt, 126 Seiten, 26 Euro