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Theater Dieter Dorn in Wien

Die tröstliche Sinnlosigkeit des Lebens

Szenen eines Ehebetts: „Glückliche Tage / Herzliches Beileid“ Szenen eines Ehebetts: „Glückliche Tage / Herzliches Beileid“
Szenen eines Ehebetts: „Glückliche Tage / Herzliches Beileid“
Quelle: Mag. Rita Newman
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Becketts verzagter Nachkriegsexistentialismus trifft rasantes Türenklapptheater: Der legendäre, bald 90-jährige Theatermacher Dieter Dorn beweist in Wien, dass die bürgerliche Ehe doch noch nicht erledigt ist.

Der große Theaterregisseur Dieter Dorn, letzter Vertreter einer werkgetreuen Inszenierung, hat etwas getan, das so ist, als würde man an einem Liederabend mit besinnlichen Schubert-Liedern die Gruppe Rammstein dazu bitten: Er hat Beckett mit Feydeau verbunden.

Gemeinsam wird Samuel Becketts Stück „Glückliche Tage“, tieftrauriger Höhe- beziehungsweise Tiefpunkt des „Absurden Theaters“ mit Georges Feydeaus lustiger Ehekomödie „Herzliches Beileid“ am Wiener „Theater in der Josefstadt“ in ein Stück gezwängt. Und es gelingt!

Das nur mittelgroße Theater, das seit Jahrzehnten gegen den Abstieg in den Boulevard kämpft, hat mit Dieter Dorn und noch mehr mit dem Wort „Beckett“ das große Los gezogen. So ein berühmter Regisseur, und dann auch noch so ein ernster Autor! Und der tat ihnen sogar noch den Gefallen, mit Feydeau jenen Stückeschreiber dazuzunehmen, der bei dem uralten Publikum seit jeher am meisten zieht.

Die Jüngeren werden es gar nicht mehr kennen: Bei Feydeau gehen die Türen auf, und wieder zu, und wieder auf, im Sekundentakt, und das Zimmermädchen muss sich im Schrank verstecken, weil es mit jemandem verwechselt wird. Oder so ähnlich (man nennt das Vaudeville-Theater). Das verstehen selbst die, bei denen kein Hörgerät mehr etwas nützt.

Beckett dagegen führt in die Abgründe des Lebens, wie es so schön beziehungsweise theatralisch heißt. Demnach ist das Leben nicht gut oder schlecht, sondern sinnlos. Beckett fand zu dieser Sichtweise bei seinen langen Aufenthalten in Deutschland während der Dreißigerjahre. Die Verbrechen und Verheerungen der Nazis waren ihm nicht Ausdruck einer bösen Macht und teuflischen Gesinnung, nein, viel schlimmer, sie waren absurd! Nicht verwunderlich also, dass Beckett nach dem Krieg hoch gehandelt wurde.

Und inzwischen schlecht gealtert ist. Dieter Dorn, fast 90, spürt sie noch genau, die Absurdität jeglicher Existenz. Vielleicht sogar das ähnlich alte Publikum.

Kleiner Absacker: Szene aus „Glückliche Tage / Herzliches Beileid“
Kleiner Absacker: Szene aus „Glückliche Tage / Herzliches Beileid“
Quelle: Mag. Rita Newman

Im Josefstadt-Theater geht ja schon seit Urzeiten das Gerücht um, der Theaterarzt – der dort wirklich einen gut sichtbaren Eingang hat – habe einen Sterbeschnitt von 1,2 Todesfällen pro Aufführung. Stimmt natürlich nicht. Aber Rentner sind die Besucher mehrheitlich schon. Vielleicht Leute, die, wie die Beckettfiguren hier auf der Bühne, absolut nichts mehr zu tun haben und den Tag mit sinnlosen Ritualen füllen.

Das Bühnenbild und die Ausstattung ist naturalistisch karg, etwa späte Vierzigerjahre, und es passiert nichts, genauer gesagt: NICHTS. Man hat die Botschaft nach spätestens zehn Minuten verstanden, und zwar bis zum Abwinken; man sehnt sich zurück nach dem modernen Regietheater-Scheiß mit Luftballons, Transfrauen und Goebbels-Reden auf Videoleinwänden.

Beim absurden Theater komme es auf jedes Wort an, erzählt der Regisseur dieser Zeitung. Möglich, dass sich echten Beckettfreunden etwas erschließt, was der abgelenkte Rezensent noch nicht erkennt.

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Die Protagonisten, ein Mann und eine Frau, haben offenbar keine Nachbarn, Kinder, Kollegen, geschweige denn Freunde. Schon klar, dass sich so ein Dasein öde anfühlt. Oder fad, wie man in Wien sagt.

Theaterlegende: Dieter Dorn
Theaterlegende: Dieter Dorn
Quelle: Getty Images/Hannes Magerstaedt

Andererseits ist das womöglich die vergreiste Gesellschaft der Zukunft. Frank Schirrmacher hat sie in seinem „Methusalem-Komplott“ visionär vorausgesagt. Die Alten und Uralten, deren stets steigende Wählermacht das System „Demokratie“ am Ende ad absurdum führt.

Der Theaterbau ist wunderschön, renoviert wohl im Stil des Original-Zustandes, roter Samt überall, Gold, roter Teppich, rote Tapeten, Girlanden, Rokokosessel, warmes gelbes Licht aus Kerzen und Kronleuchtern. Selbst die filigranen, gebogenen Geländerstangen sind mit rotem Samt umwickelt. Super! Man sieht noch die Kaiserloge, in der jetzt Dieter Dorn sitzt, hoch oben, der Bühne direkt gegenüber – aber wo, möchte man kurz meinen, ist eigentlich Sissi?

Nach der endlos langen Pause, wahrscheinlich den Greisen geschuldet, die mit ihren klappernden Krücken allesamt zum wahrscheinlich ebenso mit rotem Samt beschlagenen Örtchen humpeln, ist es dann endgültig ein Stück aus dem Hospiz. Ein Sterbezimmer. Die Schauspielerin (Anika Page) hat keine Zwischentöne und schreit einen in die Apathie hinein. Ihr Mann hat sich in ein Loch neben dem Bett verkrochen. Die letzten Tage einer sterbenden Schauspielerin. Ihr Liebster verlässt sie dann auch noch. Und Schluss.

Endlich wieder Personal

Und Feydeau! Ohne Vorhang geht es weiter. Die Sterbende erwacht – es war alles nur ein Alptraum! In Wirklichkeit lebt sie in einem heiteren Ehealltag. Jetzt zeigt sich, was die beiden Schauspieler, also Anika Page und Michael von Au, wirklich draufhaben. Wie befreit spielen sie auf, und Dieter Dorn muss seine ganze Kunst aufwenden, um sie noch zu zügeln. Denn er will das Tempo erst nach und nach steigern.

Das tut er dann. Es sind scheinbar nur die bekannten Konflikte zwischen Mann und Frau in der bürgerlichen Ehe, aber sie werden mit einer geradezu tolldreisten Lust am Leben, am Streit, am Spaß, am bewegten Kampf in Szene gesetzt. Die Frau gibt angeblich zu viel aus, der Mann rügt sie, in Wirklichkeit ist er es, der das Geld aus Angeberei verschleudert. Die Frau zickt, der Mann ist genervt und hat Magenschmerzen und Schulden. Und dann lehnt die Frau sich doch wieder liebevoll an ihn, nachts.

Vor allem aber haben diese Bourgeois endlich wieder Personal. Ein Zimmermädchen, einen Diener. Die braucht man auch, wenn die Türen immer auf- und zugeschlagen werden sollen.

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Die lieben alten Leute im Publikum, die so lange brav und, trotz allem Entsetzen, interessiert zugesehen hatten – in der Pause ist keiner gegangen – werden nun belohnt. Es reißt sie fast von den Brokatsesseln.

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Und Dieter Dorn dreht noch weiter an der Temposchraube. Ein Bote kommt und meldet, dass die Mutter von Madame gestorben sei (daher der Titel „Herzliches Beileid“). Sie fällt in Ohnmacht, der Diener fängt sie auf, der eifersüchtige Mann geht dazwischen und so weiter. Das Dienstmädchen wird geweckt, aber die hat im Bett des Gatten übernachtet, weil der beim Künstlerball mit einem Nacktmodell geflirtet hat oder so ähnlich. Jedenfalls schreibt Monsieur sofort seinen Gläubigern, demnächst zu erben. Da plötzlich geht wieder eine Tür auf, wieder ein Bote, jetzt die Nachricht, Madames Mutter sei gar nicht tot, sondern die des Nachbarn. Eine Verwechslung! Monsieur flucht, alles rennt durcheinander, jeder stößt etwas um, eine Choreografie nicht endenden Tumults überschwemmt die Bühne und das Publikum in der letzten Stunde der fast dreistündigen, erst zähen und dann beispiellos kurzweiligen, und damit denkwürdigen Vorstellung.

Dabei dreht sich alles ums große Doppelbett, und man versteht schon, Ehe gleich Ehebett. Anika Page spielt immer verrückter, ihr Partner Michael von Au, eben noch der mundfaule Molch aus dem Loch neben dem Bett, gewinnt die Herzen der plötzlich alterslosen Seniorinnen. Nie bleibt etwas statisch. Alles krabbelt hin und her, und alles Streben und Verhindern verbindet der falsche Tod der Mutter, über den man sich zunehmend lustig macht. Ständig passiert etwas, ohne dass es überdreht wirkt.

Woran liegt’s, an der Detailkenntnis des Autors? Er, Feydeau, muss von seiner Frau sehr gequält worden sein, sonst hätte er die tausend Zickigkeiten nicht so gut aufschreiben können. Und die schuftigen, jungenhaft-durchschaubaren Reaktionen der Männer. Man erkennt alles wieder, durch die Jahrhunderte hindurch.

Brecht kann noch was lernen

Aber leidet man deswegen mit? Im Gegenteil. Man ist glücklich (falls bürgerlich verheiratet), einen Menschen zu besitzen, der mit einem eine reale Feydeau-Komödie teilt. Freiwillig. Und man nicht deppert dahinsiechen muss wie eine Beckett-Figur.

Das war es, was der geniale Menschenfischer Dieter Dorn uns beibringen wollte an diesem Abend.

Stunden vor der Premiere hatte er dieser Zeitung ein Interview gegeben und aus seinem Theaterleben erzählt. Das hatte mit Brecht begonnen, den er in Ost-Berlin nach dem Krieg kennengelernt und über die Maßen verehrt hatte. Von ihm dürfte er gelernt haben, wie man ein Publikum erzieht. Jetzt möchte man meinen, dass es eher Brecht wäre, der von Dieter Dorn lernen könnte.

Joachim Lottmann ist ein deutscher Schriftsteller und lebt in Wien. Nächste Woche erscheint sein Buch „Der Mann ohne Meinungen“, das als verstecktes Porträt des ehemaligen Kanzlers Sebastian Kurz kontrovers diskutiert wird.

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