Roberto Cuoghi im Kasseler Fridericianum:Die Jesus-Fabrik

Roberto Cuoghi im Kasseler Fridericianum: Spott, Memento mori oder aberwitzige Identifikation? Roberto Cuoghis Großwerk "Imitatio Christi" (2017).

Spott, Memento mori oder aberwitzige Identifikation? Roberto Cuoghis Großwerk "Imitatio Christi" (2017).

(Foto: Alessandra Sofia/The artist/Hauser & Wirth, Galerie Chantal Crousel)

Das Kasseler Fridericianum zeigt die Reliquien, Horrorwesen und Fantasiemaschinen des italienischen Extremkünstlers Roberto Cuoghi.

Von Till Briegleb

Lange Jahre galt der italienische Beitrag auf der Biennale von Venedig als erwartbare Enttäuschung. Die riesige Halle im Arsenale wurde Ausgabe für Ausgabe vollgestopft mit beliebiger italienischer Kunstproduktion, die dem Land den Anschein provinzieller Rückständigkeit gab. Doch 2017 erlebten die Besucherinnen und Besucher plötzlich ein freudiges Schaudern in der dunklen Werftbasilika. Kuratiert von Cecilia Alemani, die im vergangenen Jahr als künstlerische Direktorin die ganze Biennale zu großem Erfolg führte, zog Magie und Bedeutung ein in diese nationale Repräsentation.

Verantwortlich dafür war vor allem die wunderliche Jesus-Fabrik des Roberto Cuoghi: eine riesige Installation aus Öfen, Tischen und aufblasbaren Iglus als Teil einer Fertigungsstrecke für gekreuzigte Heilande. Diese Figuren in Lebensgröße hatten allerdings nicht Aussehen und Form anbetungswürdiger Leidensgestalten für den Platz über dem Altar. Cuoghis Christi-Leichen waren vertrocknete, mumifizierte, unter großer Hitze verformte Körper, die eher aus Pompeji oder Hiroshima zu stammen schienen. Und die vielfältigen Irritationen, die Cuoghi mit dieser aufwändigen Manufaktur heiliger Leichen erzeugen konnte, setzte sich fort bis in viele modrige Details und den Titel.

Hinter "Imitatio Christi", wie jetzt auch die zentrale Arbeit in der großen Schau Cuoghis im Fridericianum in Kassel heißt, steht die asketische Idee, das bedürfnislose Leben Jesu als Vorbild der eigenen Existenz zu nehmen. Die Nachahmung Christi, die von frühen christlichen Sekten und Mystikern, von Franz von Assisi und der reformatorischen Bewegung der "Devotio moderna" als Ideal verstanden wurde, bleibt als Aufforderung durch Cuoghis Figuren allerdings ein mystisches Rätsel. Inwiefern sind die gequälten, verformten und gebackenen Körper Gottes, die in Kassel als Kreuzigungsstraße auf alten beschmierten Museumsstellwänden inszeniert sind, vorbildhaft für das menschliche Leben? Oder geht es Cuoghi um das Nachahmen des Schmerzes als Einspruch gegen menschliche Grausamkeit? Ist die Vielheit dieser künstlichen Reliquien etwa Spott, Memento mori, oder aberwitzige Identifikation?

Cuoghi verwandelte sich für sieben Jahre in seinen Vater und nahm dafür 80 Kilo zu

In letzterem Fach hat der 1973 in Modena geborene Extremkünstler bereits ein besonders verrücktes Vorhaben umgesetzt. Mit 24 Jahren begann er, sich in seinen Vater zu verwandeln. Er nahm 80 Kilo zu und blieb für sieben Jahre in Kleidung, Frisur und Auftreten ein Klon seines Erzeugers - wobei die Gewichtszunahme erhebliche körperliche Folgeschäden verursachte. Andere an die exzessive Körperkunst von Orlan, Flatz, Marina Abramović oder die Wiener Aktionisten erinnernde Selbstmarterungen bestanden im Wachsenlassen der Fingernägel, bis er nichts mehr greifen konnte, oder dem tagelangen Tragen einer Brille, die alles seitenverkehrt und auf dem Kopf zeigt.

Im Gegensatz zu der umfassenden Retrospektive Roberto Cuoghis, die Fridericianum-Direktor Moritz Wesseler 2017 als Chef des Kölner Kunstvereins aus Genf übernommen hatte, fehlen in Kassel einige Aspekte seines schillernden Gesamtwerkes. Dieses verweigert völlig die Einordnung in Sujets, Medien oder Stile. Zwar haben Cuoghis Projekte immer etwas mit Metamorphosen und Metaphysik zu tun. Aber zur Visualisierung folgte dieses Genie des Morbiden allen experimentellen Pfaden, die in der Kunst des 20. Jahrhunderts beschritten wurden: von der surrealistischen Malerei und der Pop Art über wilde Happenings bis zu verstörenden Klangwerken und Neuen Medien finden sich Einflüsse und Methoden in Cuoghis transformatorischer Arbeit.

Die aktuelle Präsentation in den großen Sälen des Fridericianums nimmt die beiden Ausstellungen von 2017 als Ausgangspunkt und zeigt die weitere Entwicklung der Jesus-Werkstatt. In Zusammenarbeit mit der französischen Industriedesignerin Matali Crasset, die Cuoghi große, knallfarbige oder silbrige Maschinen und Werkzeuge gebaut hat, die mal aus der Landwirtschaft, mal aus einem alchemistischen Labor stammen könnten, wird die Kreuzesmarter in einem weiteren industriellen Zusammenhang fortgesetzt. Die aus Algen und Gelatine geformten Figuren, Köpfe und Körperteile sind auf Rechen aufgespießt wie Kriegstrophäen, aufgehängt wie Schrumpfköpfe oder gefesselt.

Die Monster sind glücklich, so missraten zu sein, dass niemand sie essen möchte

Archaische Schlachten oder apokalyptische Verwüstungen eines Atomkriegs, in dem Maschinen überleben, aber Menschen verschwinden, werden als Assoziation ebenso wachgerufen wie Hungersnöte und Horrorfilme. Aber Cuoghis Verwandlungen des Lebens in Chimären aus Schönheit und Schrecken haben auch Humor. In dem zweiten großen Werkkomplex, der in Kassel gezeigt wird, entstehen aus dem Feuer Meeresbewohner von oft extravagantem Aussehen. Die in Lehmöfen während eines Happenings auf der Insel Hydra gebrannten Tonobjekten kreuzen Krabben und Brathühnchen mit Zähnen und Augen des menschlichen Gesichts. Diese "Putiferio" (deutsch: Aufruhr oder Durcheinander) betitelten Serien zeigen Monster, die nicht unglücklich darüber scheinen, so missraten zu sein, dass niemand sie essen möchte.

Roberto Cuoghi im Kasseler Fridericianum: Chimären aus Schönheit und Schrecken: Roberto Cuoghi: "SS(XCP)c" (2018).

Chimären aus Schönheit und Schrecken: Roberto Cuoghi: "SS(XCP)c" (2018).

(Foto: Alessandra Sofia/The artist, Hauser & Wirth and Galerie Chantal Crousel)

Die beängstigende Konsequenz, mit der Cuoghi seinen radikalen Ideen folgt, geht gelegentlich an die Grenze des Erträglichen. Alle halbe Stunde bricht in den Ausstellungsräumen für 90 Sekunden eine brachiale Klanginstallation los, die fast so laut ist wie ein Düsenflugzeug. Die musikalischere Version von Cuoghis Krachkompositionen lässt sich in einem separaten blauen Raum mit kreisförmig angeordneten Lautsprechen erleben. Die rhythmisch-dissonante "Rekonstruktion" eines angeblich assyrischen Klagelieds aus dem Jahr 612 vor Christi ist die komplexe Phantasie einer Musik, zu der es keine Quellen gibt, gespielt auf Instrumenten, die der Künstler selbst erfunden und gebaut hat, und zwischen den Algenkörpern auch ausstellt - deren Jesusköpfe übrigens durchaus eine gewisse Ähnlichkeit zum Konterfei ihres Schöpfers aufweisen.

Die im Katholizismus und seinen Lehren von Schuld, Schmerz und Scham verankerte Kunstwelt Roberto Cuoghis weckt vielfältige Assoziationen, natürlich abhängig von der Phantasie der Betrachtenden. Als moderner Mystiker mit kritischem Blick auf den Technikglauben spielt dieser hochbegabte Radikalkünstler die Schöpfung neu und schreckt nicht zurück vor Ängsten. Eine metaphysische Geisterkomödie, die fast so göttlich ist wie Dantes Höllenfahrt.

Roberto Cuoghi. Fridericianum, Kassel. Bis 29. Mai.

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