"Mi país imaginario" im Kino:Leinwand in Flammen

"Mi país imaginario" im Kino: Frauen trieben die Revolte in Chile voran, die mit der Anhebung der Preise von Metro-Tickets begann.

Frauen trieben die Revolte in Chile voran, die mit der Anhebung der Preise von Metro-Tickets begann.

(Foto: Real Fiction Filmverleih)

Patricio Guzmán lässt in "Mi país imaginario" ausschließlich Frauen von den Aufständen in Chile 2019 erzählen.

Von Philipp Stadelmaier

Es kommt vor, dass Filme etwas verbreiten, das selten geworden ist: den Optimismus, dass kollektive Anstrengungen die Dinge zum Besseren verändern können. Die Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Der Dokumentarfilm "Mi país imaginario" tut das. Er begleitet die massive Protestbewegung in Chile, die im Oktober 2019 ihren Anfang nahm und schnell zum größten Volksaufstand in der Geschichte des Landes wurde.

Es begann mit der Anhebung der Preise von Metro-Tickets um 30 Pesos. Schon bald weiten sich die Proteste aus, Millionen Menschen gehen auf die Straßen. Es geht um mehr Rechte für Frauen und Indigene, um Wohnraum, um soziale Gerechtigkeit in einer Gesellschaft, die noch immer von der Diktatur geprägt ist, von einer Politik für Reiche. Die Menschen wollen leben. Der Präsident Sebastián Piñera erklärt den Ausnahmezustand und holt das Militär zu Hilfe, blutige Auseinandersetzungen auf den Straßen folgen. Doch der Kampf ist nicht umsonst: Am Ende steht die geplante Reform der Verfassung, die aus Zeiten der Militärdiktatur stammt, und die Wahl des Kandidaten der Linken, Gabriel Boric, zum neuen Staatschef.

Sie bezeichnen den Unterdrückungsstaat als Vergewaltiger: "El violador eres tú."

Dee Film beginnt aber noch weiter in der Vergangenheit, in einem Chile, das 1970 schon einmal voller Hoffnung war, zur Zeit des sozialistischen Präsidenten Salvador Allende. Die Schwarzweiß-Aufnahmen stammen vom jungen Patricio Guzmán, dem Regisseur des Films, der schon die ersten Monate der Regentschaft Allendes dokumentierte. Aber bald schon putscht sich General Augusto Pinochet mit Hilfe des Militärs an die Macht. Seine politischen Gegner lässt er verfolgen, foltern und verschwinden. 1973 wird Guzmán für mehrere Wochen in ein Lager gesperrt, bevor er es schafft, das Land zu verlassen.

Der Exilchilene hat sich in seinen jüngsten Filmen immer wieder mit der Pinochet-Ära auseinandergesetzt. Der traumatischen Vergangenheit nähert er sich über die Landschaften und die Elemente der Natur. In "Heimweh nach den Sternen" sucht er in der Atacama-Wüste nach Überresten der Opfer der Diktatur, in "Der Perlmuttknopf" erkundet er den Pazifischen Ozean als Gedächtnisort, in "Die Kordillere der Träume" das Andengebirge. Auch zu Beginn des neuen Films "Mi país imaginario" filmt Guzmán Steine, die auf den Straßen von Santiago de Chile herumliegen und ihn an die Berge erinnern - doch hier verwandeln sie sich in Instrumente der Revolution. Demonstranten haben sie aus dem Pflaster gerissen, schleudern sie in Richtung der schwer bewaffneten Polizei.

Auch die Bilder dieses Films funktionieren wie Steine, aber eher wie solche, mit denen man ein neues, imaginäres Land aufbauen kann, gemeinsam mit den Aktivistinnen, die Guzmán filmt, und den Massen auf der Straße. Doch diese Zukunft ist noch nicht klar zu sehen. Sie muss sich erst noch entwickeln.

Zu Beginn des Films schildert Guzmán, wie 1970 der legendäre französische Essayfilmer Chris Marker seine früheren Allende-Filme sah und ihm sagte: "Wenn du ein Feuer filmen willst, musst du vorher am Ort sein, wo sich die erste Flamme entzünden wird." Marker war besessen davon, den Bildern der Gegenwart die Zeichen von Vergangenheit und Zukunft abzulesen. Guzmán war aber gerade nicht vor Ort, als Chile im Herbst 2019 anfing zu brennen, er kam erst verspätet hinzu.

Die Zeichen der Zukunft, die diese Revolution enthält, zeigt Guzmán daher gerade nicht. Sie gehören den porträtierten Protagonistinnen: der Künstlerin, der Fotografin, der Sanitäterin, der Anwältin, die auch eine Schachspielerin ist, der Lagerarbeiterin. Wie auch immer sie aussieht: Die Zukunft ist weiblich und feministisch. Guzmán interviewt ausschließlich Frauen, da es Frauen sind, die diese antipatriarchale Revolte vorangetrieben, ihr eine Stimme gegeben haben. Etwa mit dem viral gegangenen Sprechgesang des Theaterkollektivs Las Tesis, in dem der Unterdrückungsstaat als vergewaltigender Mann identifiziert wird: "El violador eres tú."

Tausende Frauen singen das, erheben synchron ihre Arme, als Symbol gegen die Staatsmacht. Wenn man das sieht, hat man nur einen Wunsch: mit auf die Straßen zu gehen und das Patriarchat in Schutt und Asche zu legen. Die Leinwand steht in Flammen.

Mi país imaginario, Chile / Frankreich 2022. - Regie und Buch: Patricio Guzmán. Kamera: Samuel Lahu. Montage: Laurence Manheimer. Real Fiction, 83 Min. Kinostart: 13. April 2023.

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