Hörbuchkolumne:Am ganzen Körper kalt

Hörbuchkolumne: Peter Kurzeck, Autor von "Und wo mein Haus?", als Hörbuch gelesen von Michael Rotschopf.

Peter Kurzeck, Autor von "Und wo mein Haus?", als Hörbuch gelesen von Michael Rotschopf.

(Foto: Regina Schmeken)

Emily Dickinsons Gedichte mit Birgit Minichmayr, Peter Kurzecks deutschlandgraues Nachkriegshessen und Gert Heidenreichs "Meer": neue Hörbücher.

Von Florian Welle

"Ich wohne in der Möglichkeit - ein Haus schöner als die Prosa - Hat Fenster ungezählt - Und Türen - himmelweit", dichtete Emily Dickinson. Das Leben der amerikanischen Lyrikerin ist längst zu einem Mythos geworden: Als Lady in White, die bis zu ihrem Tod 1886 zurückgezogen im Haus der Eltern in Amherst lebte, ist sie in die Literaturgeschichte eingegangen. Dagegen kennen ihre kühnen Gedichte gerade keine Begrenzung. Jede Zeile atmet Modernität. Ob sie selbst sich dessen bewusst war, ist eine andere Frage. In Briefen äußert sie Zweifel. "Sind Sie zu beschäftigt zu sagen, ob meine Verse leben?", fragt sie einen ihrer zahlreichen Korrespondenzpartner.

Zu Lebzeiten gelangten nicht einmal ein Dutzend ihrer knapp 1800 Gedichte, die mit dem Etikett Naturlyrik nur unzureichend beschrieben sind, an die Öffentlichkeit. 77 hat Kai Grehn für sein Hörspiel "Mögen Sie Emily Dickinson?" ausgewählt, ergänzt um ausdrucksstarke Briefpassagen, die die Dichterin zwischen Geschirrspülen und depressiven Schüben zeigen. Dabei griff Grehn nicht auf die vorbildliche Übersetzung von Gunhild Kübler zurück, die seit einigen Jahren als Gesamtausgabe im Hanser Verlag vorliegt. Sondern übersetzte selbst, damit sich die Gedichte besser in seine empfindsam-brüchige Inszenierung fügen, für die die US-amerikanische Band CocoRosie um die Geschwister Bianca und Sierra Casady den entsprechenden Sound liefert. Die Melodie einer Spieluhr gibt den Ton vor für das vor zwei Jahren von Radio Bremen und dem Deutschlandfunk produzierte Hörspiel, in dem auch häufig der Wind weht und der Hahn kräht. Vor Kurzem ist es auf Major Label erschienen und dürfte eines der schönsten der jüngeren Zeit sein (1 CD mit einer Laufzeit von 67 Minuten).

Hörbuchkolumne: Kai Grehn: "Mögen Sie Emily Dickinson?"

Kai Grehn: "Mögen Sie Emily Dickinson?"

(Foto: Zweitausendeins)

Das liegt vor allem an Birgit Minichmayr, die die Gedichte mit ihrer rauchigen Stimme blitzgescheit interpretiert, einfühlsam, aber stets fern jeder Rührseligkeit. Dickinson feiert die Schönheit des Lebens und weiß doch um dessen Vergänglichkeit. Es gilt ihr eigener Anspruch an Literatur: "Wenn ich ein Buch lese und mir wird davon am ganzen Körper so kalt, dass kein Feuer mich erwärmen kann, weiß ich, das ist Poesie."

Während die "Dickinson"-Produktion in einem hochwertigen Cover-Artwork vorliegt, das auch alle 77 Gedichte auf Deutsch sowie im englischen Original umfasst, gibt es Michael Rotschopfs Lesung von Peter Kurzecks assoziativ geknüpfter Erinnerungsprosa "Und wo mein Haus?" nur als Download (speak low in Zusammenarbeit mit dem Hessischen Rundfunk 2023, Laufzeit 225 Minuten).

Bei dem von Rudi Deuble herausgegebenen Fragment aus dem Nachlass handelt es sich um den achten Band des auf zwölf Bände angelegten Romanzyklus "Das alte Jahrhundert", dessen Vollendung Kurzeck nicht mehr erleben durfte. Der aus dem Sudetenland stammende Autor, den es als Kind mit seiner Familie nach Staufenberg bei Gießen verschlagen hatte, starb 2013 im Alter von 70 Jahren. Da war gerade Band fünf erschienen.

Hörbuchkolumne: Peter Kurzeck: "Und wo mein Haus?"

Peter Kurzeck: "Und wo mein Haus?"

(Foto: speak low)

In "Und wo mein Haus?" löst eine Bahnfahrt von Frankfurt nach Gießen zu Beginn der Achtzigerjahre beim Ich-Erzähler, der von sich sagt, er habe jeden Augenblick Zeit sorgsam aufbewahrt, einen Erinnerungsstrom aus. Er führt zurück ins Nachkriegshessen. "Graue", "nassgraue", "deutschlandgraue" Bilder steigen auf vom fünfjährigen Jungen, der kurz vor der Währungsreform mit seiner Mutter zum Einkaufen nach Gießen fährt.

Bilder von einem fremden, wilden Terrain aus Trümmern, Handkarren und Ami-Jeeps, dazwischen "die dünnen Deutschen". Oder von Displaced Persons, die man überall antrifft. Oder vom Vater am Esstisch, der immerzu abwechselnd aus der Bibel und aus dem "Faust" liest. Michael Rotschopfs federnde Lesung entwickelt mit der Zeit einen Sog, dem man sich nicht entziehen kann.

"Ich liebe das Meer, wie meine Seele", schrieb Heine mit Blick auf die Nordsee. Gert Heidenreich hat diesen Satz seinem Langgedicht "Das Meer" vorangestellt, das er auch selbst für den Griot Hörbuchverlag eingelesen hat, ruhig und intim (3 CDs mit Booklet, Laufzeit ca. 210 Minuten). Der Schriftsteller und Hörbuchsprecher lebt seit vielen Jahren abwechselnd in Bayern und in der Normandie.

Hörbuchkolumne: Das Meer - Atlantischer Gesang. Ein Epos Gelesen vom Autor, mit Musik von Julian Heidenreich.

Das Meer - Atlantischer Gesang. Ein Epos Gelesen vom Autor, mit Musik von Julian Heidenreich.

(Foto: Griot Hörbuch)

Auf Französisch heißt es "la mer", weshalb Heidenreich es auch als "Madame", "wilde Schöne" oder "französisches Girl" anspricht. "Atlantischer Gesang", so der Untertitel des wortverfallenen Versepos in 28 Abschnitten, besitzt unüberhörbar die Züge einer stürmischen Liebesbeziehung, man zeigt sich schon mal die kalte Schulter, um dann reumütig zurückzukehren. Heidenreich führt Zwiesprache, fragt sich, wie alt seine "Geliebte" erdgeschichtlich sei, bewundert ihre Wellen, die Brandung. Sorgt sich aber auch angesichts der Verschmutzung durch den Homo Plasticus um ihr Wohlergehen.

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