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Neue Musik nach der Flucht aus Mariupol

Maryna Barba
1. April 2023

Als Russlands Invasion begann, war Dirigent Wasyl Krjatschok in Mariupol. Ihm gelang die Flucht aus der eingeschlossenen Stadt. Jetzt baut er in Kiew sein Orchester wieder auf - denn Musik ist sein Leben.

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Dirigent Wasyl Krjatschok am Dirigentenpult
Probt mit seinem Orchester: Dirigent Wasyl KrjatschokBild: DW

Vor der russischen Invasion in der Ukraine führte Wasyl Krjatschok ein normales Leben. Der Dirigent glaubte nicht, dass Russland eine Offensive starten würde, sondern bereitete sich auf Konzerte vor, die im März 2022 in der Mariupoler Philharmonie stattfinden sollten. Eine Woche vor dem 24. Februar, dem Tag, an dem der umfassende russische Einmarsch begann, hatte er mit seinem Orchester Renaissance einen Abend mit klassischer Musik veranstaltet. Es sollte seine letzte Aufführung in Mariupol sein.

Hunderte Menschen suchten Schutz in die Philharmonie

"Selbst am 24. Februar herrschte noch mehr oder weniger normales Leben in der Stadt. Wir waren solche Situationen gewohnt. Während des seit acht Jahren andauernden Krieges (im Osten der Ukraine, Anm. d. Red.) wurde auch Mariupol hier und da getroffen. Daher dachte niemand, dass es so einen großen Krieg geben würde. Vom 24. Februar bis zum 1. März gingen alle davon aus, in zwei oder drei Wochen, spätestens in einem Monat sei alles vorbei. Aber als die ganze Stadt von russischen Truppen umzingelt war, wurde uns alles klar", erinnert sich Krjatschok.

Ihm zufolge wurde Mariupol von den russischen Besatzern nach und nach zerstört. Immer mehr Zivilisten starben, es wurde extrem gefährlich, nach draußen zu gehen. Deshalb verbrachten die Menschen viel Zeit in Kellern. Zudem begaben sie sich zu Hunderten nicht nur ins Theater der Stadt, das am 16. März von den Russen bombardiert wurde, sondern auch zur Philharmonie, wo sie Schutz vor russischen Bomben suchten.

"Die Leute kamen zur Philharmonie, weil sie dort nicht allein waren. Im Gebäude waren ungefähr 1200 Personen. Geschäftsleute und Menschen, die in der Stadt geblieben waren, halfen mit Lebensmitteln. Zu dem Zeitpunkt gab es weder Strom noch Wasser oder Heizung. Wenn Schnee fiel, wurde er gesammelt und aufgetaut. Das Wasser haben wir dann abgekocht", erzählt Krjatschok.

Das Gebäude der Mariupoler Philharmonie mit einem Bauzaun davor
Kein Schutz gegen russische Bomben: Das Gebäude der Mariupoler Philharmonie diente vielen als ZufluchtsortBild: Alexander Ermochenko/REUTERS

In der Philharmonie versuchte er, für alle einen Platz zu finden und ihnen Halt und Hoffnung zu geben. Zerstört wurde das Gebäude nicht, aber durch Druckwellen wurden Fenster und Türen beschädigt. Hätten die Besatzer die Philharmonie bombardiert, so Krjatschok, dann wäre von dem einfachen Bau nichts übrig geblieben. Zudem sei er nicht unterkellert und könne nicht als richtiger Luftschutzbunker dienen. "Die Philharmonie hat 380 Sitzplätze, aber da saßen 300 bis 350 Menschen. Wenn die Besatzer eine Fliegerbombe wie auf das Theater abgeworfen hätten, dann hätte keiner von uns überlebt. Die Philharmonie ist viel kleiner als das Theater, daher wäre sie völlig ausradiert worden."

"Die Russen haben gnadenlos gemordet"

Der Dirigent verbrachte zwei Monate in der eingeschlossenen Stadt. Er wurde Zeuge schrecklicher Verbrechen des russischen Militärs. Auf dem Weg von seiner Wohnung zur Philharmonie und zurück sah er oft tote Zivilisten. "Jeden Tag ging ich durch Hinterhöfe und sah Leichen. Die Temperatur lag bei -10 bis -12 Grad Celsius. Auch im März und April war es kühl, daher verwesten die Toten nicht so schnell. Man begrub sie, so gut es ging, nicht sehr tief, und schüttete Erde darauf. Die Russen haben gnadenlos gemordet", so Krjatschok. In den ersten Monaten der Besatzung sind viele seiner Bekannten von russischen Militärs getötet worden, einige vor seinen Augen.

Das zerstörte Theater in Mariupol, mit dem warnenden Schriftzug "Kinder" auf dem Boden davor
Von Russland beschossen: Das Theater in Mariupol, mit dem warnenden Schriftzug "Kinder" davorBild: Peter Kovalev/TASS/dpa/picture alliance

Mit jedem Tag wurde es gefährlicher, sich durch Mariupol zu bewegen. Man konnte nicht nur durch eine Bombe oder einen Raketenwerfer sterben, sondern auch durch Scharfschützen oder durch Minen, mit denen die Russen die Stadt buchstäblich übersät haben. "Wenn wir nach draußen gingen, bewegten wir uns nur auf den Spuren der Autoreifen. So versuchten wir, uns zu schützen. Ich habe einmal gesehen, wie eine Person nur einen halben Meter abwich und eine Mine hochging. Von der Person war nichts mehr übrig." Vergessen können wird Krjatschok das Erlebte wohl nie.

Von Mariupol nach Kiew - eine Flucht durch viele Länder

Ende April 2022 konnte Wasyl Krjatschok Mariupol verlassen. Fast eine Woche war er unterwegs. Der Weg führte ihn über die besetzte ukrainische Stadt Donezk nach Russland, dann nach Lettland, Polen und schließlich nach Deutschland. Allein die Fahrt nach Donezk habe fast acht Stunden gedauert. "Es waren nur 120 Kilometer, aber wir fuhren durch Dörfer, weil in der Region gekämpft wurde. Ich hatte drei kleine Hunde dabei. In Donezk übernachteten wir", so der Dirigent. Ihm zufolge war es ihm gelungen, im Voraus Papiere für die Hunde und für sich selbst einen sogenannten Filtrations-Nachweis zu organisieren, also eine ideologische Überprüfung, bevor er als Ukrainer nach Russland einreisen durfte. "Natürlich hätte ich eine echte Filtration nicht bestanden", betont er. "Ich war schon immer proukrainisch gesinnt."

Dirigent Wasyl Krjatschok sitzt auf einem Stuhl, im Gespräch mit der DW
"70 Jahre sind für einen Dirigenten kein Alter": Wasyl Krjatschok im Gespräch mit der DWBild: DW

"Von Donezk wurden wir nach Russland gebracht. Wir fuhren 39 Stunden quer durch Russland bis nach Lettland, dann weiter durch Polen. Schließlich kam ich bei meiner Tochter in Deutschland an", sagt der Dirigent. Das sei die einzige Möglichkeit gewesen, aus dem besetzten Mariupol zu entkommen. Man hätte im Donbass nur noch zu Fuß unter Lebensgefahr das von Kiew kontrollierte Staatsgebiet erreichen können.

Die meisten seiner Kollegen seien aber in Mariupol geblieben, so Krjatschok. "Diejenigen, die fliehen konnten und wollten, sind weg. Manche haben es in das von der Ukraine kontrollierte Gebiet geschafft, andere sind in Russland geblieben, andere über Russland nach Georgien oder in die EU gefahren. Drei Musiker des Kammerorchesters sind geblieben und spielen jetzt in dem von den Besatzern organisierten sogenannten Orchester des Donezker staatlichen Konservatoriums. Die Mariupoler Philharmonie als solche existiert aber nicht mehr." Geblieben seien die meisten Musiker der Blaskapelle und des Orchesters für Volksmusik. Krjatschok ist erschüttert darüber, dass sie mit den Besatzern zusammenarbeiten.

Der Traum vom Konzert in Mariupol

Der viele Stress führte bei Wasyl Krjatschok zu Herzproblemen, was ihn aber nicht daran hinderte, sich wieder der Musik zu widmen. Er ist inzwischen nach Kiew gezogen und baut dort sein Orchester wieder auf. Ihm angeschlossen haben sich fünf Einwohner aus Mariupol und Musiker aus Luhansk und Charkiw, die ebenfalls in die ukrainische Hauptstadt gezogen sind. Mit dem Orchester Renaissance arbeiten rund zehn Musiker anderer Orchester zusammen. Sie wollen solange aushelfen, bis eine neue Gesamtbesetzung zustande gekommen ist.

Wasyl Krjatschok während einer Orchesterprobe in Kiew
Das neue Orchester in Kiew: Wasyl Krjatschok und die Musiker bei der ProbeBild: DW

"Das Leben geht weiter. Wir fangen von vorne an. Was sollen wir sonst machen? Wir wollen nicht sterben. Ich denke, dass ich noch 20 Jahre arbeiten und leben werde. 70 Jahre sind für einen Dirigenten und für kreative Menschen eine Zeit der Reife und kein Alter", sagt der Dirigent. "Hauptsache, die Gesundheit spielt mit und der Feind verschwindet aus unserem Land."

Derzeit plant Wasyl Krjatschok zusammen mit seinen Musikern eine Tournee durch die Ukraine und Europa. Aber der größte Traum des Dirigenten ist es, wieder auf der Bühne der Philharmonie in einer friedvollen, ukrainischen Stadt Mariupol zu stehen.

Adaption aus dem Ukrainischen: Markian Ostaptschuk

Mariupol - Tagebuch eines Krieges