Ukrainisches Tagebuch:Großes Glück

Ukrainisches Tagebuch: Oxana Matichyuk sieht man wohl nur auf diesem Bild allein. In Wirklichkeit lebt sie in einer galizisch-donbasser WG mit wechselnder Mitbewohnerzahl.

Oxana Matichyuk sieht man wohl nur auf diesem Bild allein. In Wirklichkeit lebt sie in einer galizisch-donbasser WG mit wechselnder Mitbewohnerzahl.

(Foto: Universität Augsburg/Imago/Bearbeitung:SZ)

Im Krieg ist die Wohnung unserer Autorin zur WG geworden. Könnte schieflaufen, kam aber anders.

Von Oxana Matiychuk

Vor einem Jahr, am 25. März, sind unsere beiden Mitbewohnerinnen aus Mariupol gekommen: R., die ehemalige Studentin unserer Universität, die ich von früher kannte, und ihre Mutter I., die ich nicht kannte. Zu dem Zeitpunkt waren noch drei andere Leute in unserem Haus. Nach und nach ist unsere Notgemeinschaft wieder kleiner geworden. Der Germanistik-Kollege M. aus Schytomyr hat es geschafft, nach Deutschland auszureisen, und baut sich dort ein neues Leben auf. Neue Familie, neues Glück. Das junge Paar ging Mitte April zurück nach Kiew, kurz darauf kam ihr Sohn auf die Welt. Inzwischen gehen die jungen Eltern arbeiten, und die Großeltern versorgen den Kleinen. Ab und an schickt K. Fotos, es geht ihnen allen gut.

R. konnte ihre Stelle bei der Organisation Terre des Hommes behalten, die Organisation machte neue Büros im Westen der Ukraine auf, und nach einem einmonatigen Aufenthalt in Budapest siedelte sie nach Iwano-Frankiwsk über. Das Leben im Ausland hat sie nicht besonders gereizt, zumindest nicht in Ungarn. "Ich würde gern etwas Sinnvolles in meinem Heimatland machen", sagte R. nach der Rückkehr aus Budapest.

Ich habe mich insgeheim gefreut, ihre Mutter freute sich offensichtlich. Immerhin wusste sie ihre Tochter in relativer Nähe. I. selbst ist bei uns geblieben. Als klar wurde, dass ihre Tochter R. in Iwano-Frankiwsk eine Arbeitsstelle hat, sagte ich zu I., wir würden uns freuen, wenn sie bei uns bleiben würde. Eine bezahlbare Unterkunft für eine Person zu finden, ist nicht einfach. Und so gab sie die Wohnungssuche irgendwann auf.

Unsere Wohngemeinschaft funktioniert perfekt - ich glaube, so eine findet man nicht so schnell wieder. Denn es kann auch ordentlich schieflaufen, wahrscheinlich hat jeder inzwischen Geschichten gehört, wie es in den notgedrungen entstandenen gemeinsamen Haushalten knallt, weil unterschiedliche Lebensstile und Gewohnheiten aufeinanderprallen. Wir haben einfach großes Glück.

Was I. dabei hatte, als sie zu uns kam, passte in einen Rucksack und einen kleinen Koffer

Angesichts unserer regionalen Herkünfte sind wir eine galizisch-donbasser Gemeinschaft mitten in der Bukowina. I. stammt eigentlich aus Altschewsk, das heute in der sogenannten "Volksrepublik Luhansk" liegt. Sie studierte Finanz- und Rechnungswesen und arbeitete als Buchhalterin. 2014 ging sie mit ihrer Tochter nach Mariupol. R. sollte einen ordentlichen ukrainischen Schulabschluss machen, nachdem sie das Schuljahr 2013/14 in der "jungen Volksrepublik" zu Ende gebracht hatte.

I. ließ in Altschewsk das Elternhaus zurück, in dem sie lebten. Die Zukunft ihrer Tochter zählte, sagt sie, nicht die Immobilien. Nach dem Bachelor fand R. die Arbeit bei Terre des Hommes Mariupol und wollte eigentlich dort bleiben. Doch es kam anders, weil der von vielen westlichen Politikern nicht als "durchgeknallter Nationalist" vermutete Putin, um nur beispielsweise Sahra Wagenknecht zu zitieren, sich eben als durchgeknallt und nationalistisch entpuppte (beim genaueren Hinschauen hätte man das schon vor Jahren sehen müssen, aber gesehen hat es nur eine Handvoll von "russenfeindlichen" Experten und viele der sowieso "russenhassenden" Ukrainerinnen und Ukrainer).

Ich bewundere die Standhaftigkeit und die Entschlossenheit dieser Frau, die sich als eine äußerst achtsame, sensible und anpassungsfähige Person herausstellte. Wenige Wochen nach der Ankunft fand sie auch hier Arbeit in einer Gerberei. Sie geht jeden Werktag kurz nach halb sieben aus dem Haus. Sie scheut keine Behördengänge und klagt nie.

Alles, was sie dabeihatte, als sie im März zu uns kam, passte in einen Rucksack und einen kleinen Koffer. Sie sucht sich ihre "neuen" Klamotten unter den als humanitäre Hilfe geschickten Sachen oder unter der Kleidung, die meine Bekannten aus Deutschland direkt an mich für die Weiterverteilung senden, und macht das mit Gelassenheit und Würde. Sie erhielt Hilfspakete von der Stadtverwaltung, die ihr als Binnengeflüchteter zustanden. Seit September vorigen Jahres gibt es aber keine Sachhilfe von der Stadt mehr.

In unserem Haus ist I. ein Teil unserer Gemeinschaft. Sie ist auf allen Familienfeiern dabei, ihr Geburtstag im Oktober wurde in unserer Runde selbstverständlich und mit einer dazugehörenden Torte von meiner Nichte gefeiert. Sie versteht sehr gut den etwas kruden galizischen Humor meines Schwagers und seiner zwei Brüder und hat selbst einen guten Sinn für Humor - was unser Zusammenleben angenehm macht.

Und zu ihrem Ex-Mann, der als "Bürger der Luhansker Volksrepublik" mit einem russischen Pass nach wie vor in Altschewsk lebt und nach ihrem Haus schaut, wo sein Auto in der Garage steht, sagt sie bei den seltenen Telefonaten, er soll sich Gedanken machen, wie er sich "umschulen" wird - wenn die ukrainischen Streitkräfte Altschewsk befreien.

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