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Film

Erster Kinofilm über deutsche Kolonialverbrechen in Namibia

Kevin Tschierse
24. März 2023

Regisseur Lars Kraume erzählt zum ersten Mal von einem düsteren Erbe: dem Genozid an den Herero und Nama und weitere Verbrechen, die Deutschland im heutigen Namibia begangen hat. Ein Film aus der Täterperspektive.

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Filszene eine Herero-Frau löst mathematische Aufgaben an einer Tafel in einem Vorlesungssaal. Dabei wird sie von einem Mann, dem Ethnologen Alexander Hoffmann, angeschaut
Die Herero-Frau Kezia dient dem Ethonolgie-Doktoranden Alexander Hoffmann zur Entwicklung einer eigenen Rassentheorie.Bild: Julia Terjung/Studiocanal GmbH

Vor fast 120 Jahren erhob sich das Volk der Ovaherero gegen die Kolonialherrschaft des deutschen Kaiserreichs in Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia. General Lothar von Trotha ließ den Aufstand blutig niederschlagen und erließ den sogenannten "Vernichtungsbefehl", der in die Geschichtsbücher als "Erster Völkermord des 20. Jahrhunderts" einging.

Der deutsche Regisseur Lars Kraume wagt mit seinem Spielfilm "Der vermessene Mensch" erstmalig eine deutsche Aufarbeitung auf der Kinoleinwand. In seinem Film begibt sich ein junger Ethnologe aus Berlin auf eine Forschungsreise in die damalige Kolonie Deutsch-Südwestafrika, um Schädel für die sogenannte Rassenforschung zu sammeln. Dabei wird er Zeuge des Genozids, den die "Deutsche Schutztruppe", wie sie im Kaiserreich genannt wurde, zwischen 1904 und 1908 an den Stämmen der Ovaherero und Nama begeht. Doch er bleibt nicht nur Zeuge, sondern mutiert immer mehr zum Täter. Die Geschichte handelt vom "moralischen Verfall" seiner Hauptfigur, meint Lars Kraume gegenüber der DW. Eine Erzählung aus Sicht der Ovaherero und Nama habe er sich als deutscher Regisseur nicht anmaßen wollen.

Regisseur Lars Kraume bei den Dreharbeiten in Namibia mit Sonnenbrille auf dem Kopf schaut auf den Screen einer Kamera. Hinter ihm beugt sich der Hauptdasteller in Kolonialoutfit über ihn
Regisseur Lars Kraume: "Diese Geschichte, obwohl sie 120 Jahre her ist, ist eine unverheilte Wunde."Bild: Willem Vrey

Film zeigt die "moralische Degeneration" eines jungen Wissenschaftlers

Schon die erste Filmszene lässt erschauern. Berliner Wissenschaftler vermessen in einem Vorlesungssaal der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität, der heutigen Humboldt Universität, Schädel von deutschen und afrikanischen Toten. Es wird eine pseudowissenschaftliche, evolutionistische Rassentheorie gelehrt, die auf der Prämisse beruht, dass der Schädel eines "Berliner Arbeiters" größer sei, als derjenige eines afrikanischen "Buschmanns". Diese Vergleiche sollen die damals - und darüber hinaus - vorherrschende Theorie, Deutsche seien intelligenter als Afrikaner, belegen. Kraume gelingt es, durch diese abstrusen Untersuchungen den damaligen Zeitgeist einzufangen.

Filmszene aus "Der vermessene Mensch": Studenten vergelichen Totenschädel.
Studenten vergleichen im Rahmen der "evolutionistischen Rassentheorie" Totenschädel - eine gängige Praxis an Universitäten vor 120 JahrenBild: Julia Terjung

Der ehrgeizige Ethnologie-Doktorand Alexander Hoffmann (gespielt von Leonard Scheicher) widerlegt diese Überlegenheitstheorie und entwickelt seine eigene "Rassentheorie": Er hält einen Vortrag darüber, dass alle Menschen von ein und derselben "Rasse" abstammten, nämlich dem Homo Sapiens. Seine These belegt er mit den Erkenntnissen, die er durch Gespräche und Vermessungen der Herero-Frau Kezia Kambazembi (gespielt von Girley Charlene Jazama) gewonnen hat. Sie wurde ihm als wissenschaftliches Forschungsobjekt zugespielt, als sie zu einem Auftritt auf einerVölkerschau in Berlin gezwungen wurde. Es wird zunächst also das Bild eines jungen Wissenschaftlers gezeigt, der gängige Rassentheorien hinterfragt und von dem der Zuschauer erwartet, dass er im Laufe des Films um die Fortführung dieser Forschung kämpfen wird.

Deutsche raubten die Schädel ermordeter Herero und Nama 

"Für diese provokante These bekommt er nicht den gewünschten Dozentenposten an der Friedrich-Wilhelms-Universität", erklärt Regisseur Lars Kraume. "Als dann Jahre später der Aufstand der Herero in Deutsch-Südwestafrika ausbricht, bekommt er aber eine zweite Chance." Im Zuge einer ethnologischen Expedition reist er in Begleitung der kaiserlichen Armee durch die deutsche Kolonie und sammelt für das Völkerkundemuseum in Berlin Artefakte und Schädel von den Toten des Konflikts. Und entwickelt sich im Fortgang der Handlung zu einem Anti-Helden. 

"Der Film zeigt die moralische Degeneration dieses jungen Ethnologen," führt Kraume aus. "Ihn treibt eigentlich nur sein eigener Erfolg. Das ist sein wahres Motiv, und dabei wird er Teil dieser zerstörerischen Maschinerie der Kolonisatoren in Afrika." Mit Grabplünderungen und dem Raub von Artefakten "überschreitet er Grenzen und macht sich zu einem Konformisten des imperialen Systems." Dabei bleibt er immer auf der Suche nach der Herero-Frau Kezia, die ihn damals in Berlin so fasziniert hat und findet sie auch im Höhepunkt der Handlung."

Kolonialismus ist noch nicht aus den Köpfen

Auch wenn sein Film ein düsteres Stück deutscher Kolonialvergangenheit beleuchtet, so sei er auch heute noch von großer Aktualität, so der Regisseur. Schließlich gebe auch heute noch "Wissenschaftler und Techniker von großen deutschen Industriekonzernen in Afrika, die ausbeuten und sich dabei einreden, dass sie Arbeit ins Land bringen. In Wahrheit betreiben sie aber einfach nur eine Art moderner Sklaverei", so Kraume. "Die Selbstlegitimation dieses amoralischen Wissenschaftlers ist etwas, was wir heute die ganze Zeit sehen können. Deshalb habe ich diese Figur genommen. Es sollte eben keine White-Savior-Figur werden. Er ist ein Zerstörer." Die Geschichte von Alexander Hoffmann ist Fiktion, doch die Ereignisse, die er im Film beobachtet, basieren auf historischen Fakten.

Reale Geschichte liegt dem Film zugrunde

Im Film kommt der Protagonist immer wieder mit realen Schauplätzen der Geschichte in Kontakt: von der kaiserlichen Völkerschau 1896, über den Vernichtungsbefehl von Lothar von Trotha, die Vertreibung der Ovaherero in die Wüste, einem Konzentrationslager auf der Haifischinsel und Missionaren, die mit den Deutschen kollaborieren. "Die großen Stationen dieser Odyssee basieren auf Fakten. Und um an diese verbürgten und recherchierten Orte zu kommen, brauchte ich natürlich eine Biographie, die fiktiv ist. Man findet keine Biografie, die genau diesen Weg nachgeht. Deswegen ist Hoffmann eine fiktive Figur. Er ist sozusagen Beobachter dieser realen Ereignisse," meint Kraume.

Wandernde Herero-Frauen mit Kindern in einer kargen Wüstenlandschaft
Der Film stellt historischer Ereignisse wie die Vertreibung der Herero in die Wüste nachBild: Willem Vrey

Auch die Grabschändungen und der Diebstahl von Artefakten im Namen der Wissenschaft sei damals an der Tagesordnung gewesen, sagt Kraume und bezieht sich dabei beispielsweise auf den damaligen Direktorialassistenten am Völkerkundemuseum in Berlin, Felix von Luschan, der "ein großer Schädelsammler war und eine private Schädel-Sammlung von über 10.000 Stück hatte," davon befinden sich bis heute viele im Besitz der Stiftung Preußischer Kulturbesitz.

Eine deutsche Perspektive

Kritker werfen Kraume vor, er hätte den Film multiperspektivisch erzählen sollen und auch die Sichtweise von Ovaherero und Nama einbinden sollen. So wirke der Film wie eine postkolonialistische Aufarbeitung, die nur die deutsche Sicht der Geschichte aufgreife.

Doch Kraume wehrt sich gegen dieses Argument, indem er erwidert, er wollte eine kulturelle Aneignung des Themas verhindern. Er habe beim Dreh eng mit namibischen Behörden und Künstlern zusammen gearbeitet. Eine Kostümbildnerin war eine Herero, die Darstellerin der Hauptfigur Kezia (die eigentlich nur am Anfang und am Ende des Filmes zu sehen ist) ebenso. Doch er wollte sich nicht anmaßen eine Heldengeschichte eines Herero-Anführers zu erzählen. Dadurch rückt jedoch das Leiden der Herero im Film in den Hintergrund und sie werden lediglich zu Backdrops für den Handlungsverlauf in einer weißen Tätergeschichte.

Der Film sei ein "wichtiger Schritt zur Geschichtsaufarbeitung"

Lars Kraume jedenfalls will mit seiner Verfilmung die deutsche Kolonialvergangenheit aufarbeiten. "Es muss in das Bewusstsein der Öffentlichkeit kommen, dass wir mal diese große Kolonialmacht waren und auch schlimme Verbrechen begangen haben," meint der Regisseur, der sich schon in Filmen wie "Der Staat gegen Fritz Bauer" (2015) oder "Das schweigende Klassenzimmer" (2018) mit kontroversen Themen der deutschen Geschichte auseinandergesetzt hat.

Frauen sitzen in farbigen Kleidern in einem Dorf vor einem Filmplakat zu "Der vermessene Mensch".
Der Film wurde auch in Herero-Gebieten in Namibia gezeigt. "Die Menschen waren durchaus skeptisch, aber die Säle waren immer voll", meint Kraume. Doch es ging meist versöhnlich zu, "weil es für viele wichtig ist, dass die Deutschen ihren Teil der Geschichte nicht vergessen".Bild: Sydelle Willow Smith

Es müsse aufhören, dass diese Verbrechen negiert werden, meint Kraume. Das Reparationsabkommen mit Namibia müsse endlich zustande kommen, menschliche Überreste, die immer noch tausendfach in Museen liegen, müssten restituiert werden und die Diskussion um die Raubkunst müsse weitergehen.

Seinen Film zeigt er auch in deutschen Schulen. "Schülerinnen und Schüler sind wahnsinnig offen und kommentieren alles. Sie sind ehrlich gesagt mein bevorzugtes Publikum", sagt Kraume. "Ich habe selber Söhne, die Teenager sind. Die sollen natürlich nicht wie viele Menschen es tun, nach Afrika reisen, um die Elefanten anzugucken, ohne zu wissen, was unsere eigentliche Verbindung zu Ländern wie Namibia ist."

"Der vermessene Mensch" läuft seit dem 23.03.2023 in deutschen Kinos.