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Kultur So wird der „Polizeiruf“

Das große Verzweifeln der Kinder an ihren Müttern

Redakteur Feuilleton
Sabine (Ceci Chuh) will ihr Kind zurück Sabine (Ceci Chuh) will ihr Kind zurück
Sabine (Ceci Chuh) will ihren Sohn zurück
Quelle: MDR/Stefan Erhard
Ein Junge verschwindet an seinem zehnten Geburtstag. Seine Familie ist desolat. Das Heim, in dem er lebt, keine Heimat. Er ist nicht der einzige Junge, der fremdelt mit der Welt der Erwachsenen. „Ronny“, der neue Magdeburger „Polizeiruf“, ist die Messlatte für den menschennahen Sonntagabendkrimi.

Der zehnte Geburtstag ist ein prekäres Ereignis im Leben eines Kindes. Zumindest, wenn es die manchmal zweifelhafte Ehre hat, in einem deutschen Film mitzuspielen. Zehnjährigen wird da einiges abverlangt. Weil die Erwachsenen keine große Hilfe sind für Zehnjährige, weil sie erwachsener sein müssen als die Erwachsenen, weil sie vom Leben etwas erwarten, das Erwachsene längst zu erwarten aufgegeben haben. Glück zum Beispiel.

Sie heißen Benni und Jack und Ronny. „Jack“ (den der Oscar-Gewinner Edward Berger drehte, als er noch sensible Alltagsgeschichten und keine internationalen Schlachteplatten inszenierte) und „Ronny“ (um den sich im neuen Magdeburger „Polizeiruf“ alles dreht) haben ihren Filmen gleich den Titel gegeben. Benni ist der „Systemsprenger“, mit dem Helena Zengel eine Weltkarriere begann und für den Nora Fingscheidt für den Oscar nominiert wurde.

Die Geschichten ähneln sich. Die Art, wie sie erzählt werden, ähnelt sich auch. Und immer wird man sie nicht los. Weil sie von Leben erzählen, die vergiftet werden von der Unfähigkeit von Eltern, von Erziehern, von der Gesellschaft, Verantwortung zu übernehmen für Wesen, die sich schwer wehren können.

Wie es ist für so ein Wesen, wenn es nicht versteht, was mit ihm passiert, sieht man in „Ronny“ fast zwei Minuten lang. Ronny, es ist sein zehnter Geburtstag und er ist im Heim, sitzt in seinem Bett. Man sieht ihn durch das Gitter des Bettes hindurch. Er schreibt seiner Mutter. Dass er Geburtstag hat. Und dass er nicht versteht, dass sie sich nicht meldet.

Er ist gefangen in einem Zusammenhang, den er sich nicht ausgesucht hat. Die Mutter war mal abhängig. Sie liebt ihren Sohn, sie hätte ihn gern wieder. Sie kriegt ihn aber nicht. Weil sie labil ist, heißt es. Weil der Freund, mit dem sie jetzt ein Kind hat, nicht will, dass Ronny bei ihnen lebt.

Sabine (Ceci Chuh) will ihr Kind zurück
Sabine (Ceci Chuh) will ihr Kind zurück
Quelle: MDR/Stefan Erhard

So ist das eigentlich immer in den Leidensgeschichten der Zehnjährigen im Film. Sie verzweifeln an den Müttern, die labil sind, sich treiben lassen, vielleicht besser keine Kinder bekommen hätten.

„Ronny“ ist allerdings ein Spezialfall. Ein Film – sagt die Regisseurin Barbara Ott – „über die Liebe zu unseren Kindern – über die Angst, dass sie uns abhanden kommen“. Ein Krimidrama der authentischen, elliptischen Dialoge (meisterhaft geschrieben vom Grimme-Preisträger Jan Braren), der sprechenden Blicke, Gesten und Dinge (meisterhaft inszeniert von Barbara Ott). Sozusagen ein Variationszyklus von Geschichten dreier Mütter, denen ihre Kinder abhanden kommen, die ihren Kindern abhanden kommen.

„Pass auf Freundchen“

Ronny verschwindet. Im Heim, bei Lieblingserzieher Matthias (Thomas Schubert, der „King of Stonks“ war und jetzt in Christian Petzolds „Roter Himmel“ spielt) und Heimleiterin Gaby (Maja Schöne), gab‘s Kuchen und Konfetti und eine neue Angel und ein neues Fahrrad. Daheim bei Mutter Sabine (Ceci Chuh), gab‘s Kuchen und eine Drohne und Prügel von Mutters neuem Lebensabschnittspartner René.

„Pass auf, Freundchen“, hatte René gedroht, als Ronny die Drohne im Wohnzimmer fliegen ließ. „Mama, hilf mir…“ hatte Ronny gerufen, als ihn René ins Nebenzimmer schleppte. Sabine hatte gar nicht gewusst, wohin mit ihren Augen, mit ihren Fingern. Gelähmt saß sie da.

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Dann war Ronny weg. Blieb weg. Es ist kalt draußen. Angeln wollte er auf dem Boot von Matthias, hat er noch in einer Videonachricht angekündigt. Große Überlebenschancen hat er nicht.

Matthias (Thomas Schubert) war der Lieblingserzieher von Ronny (Johann Barnstorf)
Matthias (Thomas Schubert) war der Lieblingserzieher von Ronny (Johann Barnstorf)
Quelle: MDR/Stefan Erhard

Als die Kommissarin dazu kommt, Doreen Brasch heißt sie, Claudia Michelsen spielt sie zum 17. Mal, ist das Trio der Verängstigten komplett, der Mütter, die ihren Kindern verlustig gehen oder der Mütter, deren Kinder ihnen entgleiten. Sabine sowieso. Die alleinerziehende Gaby, die mit ihrem pubertierenden, aber nicht nur deswegen seltsamen Sohn Gordon eine im höchsten Maß passiv (manchmal auch aktiv) aggressive Kommunikation führt.

Und die Kommissarin, aus deren Leben ihr Sohn schon vor Jahren verschwunden, der ihr entglitten ist. Väter kommen im Übrigen gar nicht vor. Die Welt der Heimkinderfilme ist eine vaterlose Gesellschaft. Was natürlich nicht folgenlos bleibt für das Drama, das sich ereignet.

„Ronny“ spielt alles durch. Die Wut der Sabine, die um sich schlägt, auf alle eindrischt, die sie verantwortlich macht für Ronnys möglichen Tod, am Ende auch auf sich selbst. Gabys verzweifeltes Aufbegehren gegen den Verdacht, mit Gordon könnte noch mehr nicht stimmen, als sie ohnehin vermutet.

Braschs bis zur alles überwältigenden Schlaflosigkeit führender Versuch, irgendwo hinter den Schutzwällen der Mütterlichkeit der anderen (und ihrer selbst), eine Wahrheit zu finden, während sie von einem Schuldgefühl zum nächsten hastet.

Die Brüchigkeit nicht zuletzt von Beziehungen zwischen Kindern und ihren Erziehern, die Missverständnisse, die unter Druck explodieren, die Erpressbarkeit von Pädagogen, wenn Jugendliche ihre Denunziationsmacht ausspielen, wenn überhaupt ein Verdacht auftritt („Ronny“ und Thomas Vinterbergs Pädagogen-Hölle „Die Jagd“ sind sich darin auch nicht unähnlich).

Die Heimleiterin Gabi (Maja Schöne) scheitert an der Kommunikation mit ihrem Sohn Gordon (Valentin Oppermann) einzureden
Die Heimleiterin Gabi (Maja Schöne) scheitert an der Kommunikation mit ihrem Sohn Gordon (Valentin Oppermann) einzureden
Quelle: MDR/Felix Abraham

Erzählt wird „Ronny“ – Heimkinderfilme bringen das Beste aus dem Medium hervor, möglicherweise, weil sie zur Dezenz zwingen – in Gesten, in Blicken, in Bildern, in Sequenzen, die keine Worte brauchen, um Geschichten hinter der Geschichte zu erzählen.

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Was wiederum nur funktioniert, weil Barbara Ott sich auf die Bilder verlassen kann, die ihr Falko Lachmann („Warten auf’n Bus“) lieferte. Und auf Jan Brarens aufs absolut Notwendige und absolut Natürliche reduzierte Texte. Und auf Schauspieler, die alle Ellipsen, alles Schweigen in ihren Dialogen durch minimalinvasive Mimik ausgleichen, alle Pausen beredt machen können.

Michelsens „Polizeirufe“ waren immer die erdigsten, alltäglichsten, menschennahesten aller Sonntagabendkrimis. „Ronny“ setzt dafür die neue – wie sagt man, wie würde man es in Sachsen-Anhalt nie nennen – Benchmark.

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