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  3. ChatGPT: Die Idee von GPT-4 ist schon über 80 Jahre alt

Kultur Jorge Luis Borges

GPT-4 wurde schon vor 80 Jahren erfunden

Chefkorrespondent Feuilleton
Jorge Luis Borges im Jahr 1983 Jorge Luis Borges im Jahr 1983
Visionär: Jorge Luis Borges
Quelle: Getty Images
Die neuen Chatbots faszinieren und stürzen uns in Selbstzweifel. Der Autor Jorge Luis Borges ersann schon vor vielen Jahrzehnten eine Geschichte, die wesentliche Eigenschaften von ChatGPT vorwegnahm: „Die Bibliothek von Babel“. Für den Menschen geht es darin nicht gut aus.

Eine Eigenschaft des Cyberspace ist seine potenzielle Endlosigkeit. In einer gedruckten Zeitung, um das naheliegendste Beispiel zu nehmen, muss jeder Text früher oder später an sein Ende kommen. Die Spalte endet, die Seite verlangt, umgeblättert zu werden. Im Onlinejournalismus kann es theoretisch immer weitergehen; nur die Erschöpfung von Autor, Leser oder Thema markieren eine Art natürliche Grenze, einen toten Punkt, den man zwar überschreiten könnte, den zu überschreiten sich aber nicht lohnt.

Ähnlich ist es mit den neuen eloquenten künstlichen Intelligenzen (KI), mit ChatGPT und seiner Nachfolgetechnologie GPT-4, die diese Woche vorgestellt wurde. Gefüttert mit einer schier unfassbaren Zahl von Parametern – 175 Milliarden waren es bei GPT-3, mit dem ChatGPT vorerst noch läuft, 100 Billionen sind es beim nur wenige Monate später erschienenen Nachfolger –, quasseln sie mit Millionen Menschen gleichzeitig. Die von ihnen generierten Textmassen würden, wollte man sie binden und in Regale stellen, binnen kürzester Zeit alle physischen Bibliotheken sprengen. Mit einer Ausnahme.

Der argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges hat schon 1941 die „Bibliothek von Babel“ ersonnen, in einer gleichnamigen Kurzgeschichte. Dort besteht die Welt, augenscheinlich der gesamte Kosmos, aus nichts als mit Büchern vollgestopften Galerien, die sich sechseckig aneinanderreihen, horizontal und vertikal, bis in höchste Höhen und unermessliche Abgründe. Selbstmörder, die über diese rätselhafte Welt verzweifeln, stürzen sich über das Geländer in die Tiefe. Es heißt, ihre Körper verwesten im nie endenden Flug.

Einige Menschen verehren die Bücher als Inkarnationen eines allwissenden Gottes, andere suchen nach Freveln und werfen identifizierte Exemplare in den schrecklichen Schlund hinab. Das sei aber weniger schlimm, als es klinge, erklärt der Erzähler, denn „jedes Exemplar ist einzig, unersetzlich, aber da die Bibliothek total ist, gibt es immer einige Hunderttausende unvollkommener Faksimiles: Werke, die nur in einem Buchstaben oder Komma voneinander abweichen“.

Fast alle enthalten nur unsinniges Kauderwelsch. Die gängige Kosmologie nimmt an, die Bibliothek enthalte jede mögliche Kombination der 25 Schriftzeichen (die Interpunktion kommt mit Punkt und Komma aus). Ab und an zeigt sich ein sinnvoller Satz, irgendwo müssen, unentdeckt, auch die Werke Shakespeares und selbst Borges’ stehen.

Die neuen Chatbots schaffen Sprache auf ähnliche Weise. Sie operieren mit kleineren Bedeutungseinheiten als Wörtern, nämlich mit Präfixen und Endungen, die sie ohne Sinn und Verstand, allein aufgrund stolzer Wahrscheinlichkeiten zusammenfügen, bis sich der mitlesende Mensch verwundert die Augen reibt. Der blinde Borges erweist sich im Nachhinein als auf fast schon magische Weise hellsichtig. Er schreibt: „Vielleicht trügen mich Alter und Ängstlichkeit, aber ich argwöhne, dass die Gattung Mensch bald erlöschen und dass die Bibliothek fortdauern wird: erleuchtet, einsam, unendlich, vollkommen unbeweglich, gewappnet mit kostbaren Bänden, nutzlos, unverweslich, geheim.“

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