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Film „Die Eiche – mein Zuhause“

Das Leben als Made

Wie in der germanischen Sage: Das Eichhörnchen im Weltbaum Wie in der germanischen Sage: Das Eichhörnchen im Weltbaum
Wie in der germanischen Sage: Das Eichhörnchen im Weltbaum
Quelle: © 2022 GAUMONT / X Verleih AG
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Die Paarung der Rüsselkäfer wird zum Liebesdrama, Waldmäuse wohnen zur Untermiete, und Gefahren kommen immer von außen. „Die Eiche“ erzählt vom Leben im Baum als Naturdoku ohne Menschen und Worte. Ein besonderer Dreh macht aus dem Ökokitsch eine Kinosensation, die man gesehen haben muss.

Wie es wohl ist, als kleine Made den ganzen Tag lang faul in einer zu Boden gefallenen Eichel zu liegen und seinen blassen, beinlosen Körper zu mästen? Könnte man durchs winzige Bohrloch sehen, wie sich da draußen der bebende Rüssel eines Wildschweins grunzend nähert? Hätten wir Angst, dass die Sau uns, die Made, frisst? Denn das wäre schade, wo doch das Leben gerade erst angefangen hat! Jetzt möglichst schnell durch den Ausgang gezwängt (hätte man mal nicht so viel Eichelpampf gefressen), plopp, gerade noch geschafft.

Der Vorwurf der Vermenschlichung liegt stets nahe, wenn Naturdokumentationen mit prachtvollen Makroaufnahmen, emotionsgeladener Musik und geschickter Montage alltägliche Vorfälle aus den Mikrokosmen der Natur so dramatisieren, dass sie eine für die Spezies Mensch spannende, so noch nie gesehene Geschichte ergeben. Genauso – abgesehen von der nur sparsam eingesetzten Musik – verfahren auch die französischen Dokumentarfilmer Laurent Charbonnier und Michel Seydoux in „Die Eiche – Mein Zuhause“.

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Nur: Ein Baum ist so ungefähr das Gegenteil eines Familienfilmhelden, fest verwurzelt, stumm und noch nicht mal niedlich. Im Umkreisen seiner schieren Größe, im Abtasten seiner Oberflächen bis hinunter ins symbiotische und kommunizierende Pilz- und Wurzelgeflecht, sogar in gelegentlichen subjektiven Einstellungen, als könne der Baum selbst „sehen“, was um ihn herum geschieht, im Himmel, im Wasser, auf dem Boden: Darin liegen jedoch Behauptung und Charakterisierung eines fühlenden, wissenden und mitteilsamen Wesens.

Charbonnier hat sich schon mit Staunen machenden Filmen wie „Animals in Love“ und „Nomaden der Lüfte“ einen Namen als virtuoser Erzähler tierischer Fährnisse gemacht. Spektakuläre Balztänze und Weltreisen bieten allerdings eine Steilvorlage für bewegte und bewegende Bilder. Jetzt gelingt es ihm und seinem Co-Regisseur, ganz ohne menschliche Wesen und ohne Worte eine 210 Jahre alte Eiche zur Hauptfigur zu machen. Mit ihren weit ausladenden, bemoosten Ästen steht sie an einem dicht bewaldeten, nicht näher bestimmten Ufer eines Sees in Zentralfrankreich.

Es war einmal – und dann…

Wie ein Bild gewordenes „Es war einmal“ taucht die Kameradrohne nach einem Flug über den üppigen Laubwald hinab ins schattige, begrenzte Reich rund um diesen Baum. Es ist erstaunlich, mit welch einfachen und zugleich opulenten Mitteln (und einigen visuellen Effekten) der Film dafür sorgt, dass man beim Zuschauen unwillkürlich damit beginnt, sich in Gedanken die Geschichte selbst zu erzählen wie einem Kind. Es sind lauter Und-danns: Und dann rüttelte ein Sommergewitter an den grün belaubten Ästen. Und dann fielen die ersten Blätter. Und dann kam der Winter. Und dann: starb nichts, sondern verwandelte sich alles. Es ist ein Märchen, und zwar eines der nichtgrausamen. „Die Eiche“ ist ein ohne zu große Schrecken auskommender, nichtnaturalistischer Natur- und Kinderfilm.

Für äußere Bewegung sorgt neben dem Wechsel der Jahreszeiten mit seinen käfererschütternden Stürmen und mausfamiliengefährdenden Überflutungen alles, was da lebt: auf, über, in und unter der Eiche. Zwischen dem Wurzelwerk wuselt die Waldmaus-Großfamilie. Über die Rinde krabbeln Eichenbohrer, eine pelzige Rüsselkäfer-Art mit riesigen, comicfigurhaften Facettenaugen. Oben im Laub, durch das man einmal sogar die Nährstoffe pulsieren sieht, saugen Blattläuse den süßen Saft, den die Ameisen ihnen dann vom Hinterteil wegschlürfen. In der Krone lästert und turtelt ein unzertrennliches Eichelhäher-Paar.

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Und immerzu, als Medium zwischen Oben und Unten, flitzt in größter Geschäftigkeit ein (nein: das) Eichhörnchen. Es prüft, so scheint es, mit geübten Handgriffen den Reifegrad und die Gesundheit der Eicheln, lässt sich Regentropfen vom Blätterrand ins Mäulchen rinnen oder warnt – „tschuk tschuk tschuk!“ – vor einer Natter, die sich den Stamm hinaufwindet. Es ist, als würden Charbonnier und Seydoux den uralten Mythos vom Weltenbaum wiedererzählen, in dessen germanischer Variante das Eichhörnchen Ratatöskr die Weltesche Yggdrasil auf und ab wetzt, um zwischen Baum-Unterwelt und Oberwelt Gemeinheiten über die Bewohner zu verbreiten.

Vielleicht erscheint deshalb alles so befremdend vertraut, weil wir selbst in alten und neuen Mythen wurzeln, ob uns das nun jederzeit bewusst ist oder nicht. Einmal nimmt ein Habicht die Verfolgung eines der beiden Eichelhäher auf, und das wirkt fast wie eine Parodie aufs Quidditch aus „Harry Potter“. Und wenn die Rüsselkäfer einander begatten, ist das nicht einfach biologische Reproduktion, sondern wird unter der etwas abrupten Beschallung durch Dean Martins Mambo „Sway“ zur Liebesschmonzette, mit anschließenden Anleihen aus dem Katastrophen-Genre.

Gewalt kommt immer nur von außen in diese Märchenwelt, gefressen wird nur Pflanzliches, und alle in diesem überschaubaren Reich akzeptieren einander und warnen artübergreifend vor drohenden Gefahren. Statt des Todes gibt es Verpuppung und Auferstehung als neue Käfer- oder Baumgeneration, statt Vernichtung Entkommen.

Eichenbohrer in seiner natürlichsten Umgebung im Film von Laurent Charbonnier und Michel Seydoux
Eichenbohrer in seiner natürlichsten Umgebung im Film von Laurent Charbonnier und Michel Seydoux
Quelle: © 2022 GAUMONT / X Verleih AG
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Abgeschottet ist dieses Zauberreich trotzdem nicht. Im Zyklus der Jahreszeiten gesellen sich weitere Gäste hinzu, Rothirsche, Rehe und Wildschweinrotten. Weit über der Baumkrone lassen Kraniche im Formationsflug ihr Geläut erklingen und das Konzept Ferne als etwas tatsächlich Fernliegendes erscheinen. Hartnäckig genügt dem Film wie dem Baum, einfach nur da zu sein und nicht woanders.

In seinem spielfilm- und märchenhaften Zugriff, der jedem Tier weniger eine ökologische als eine schauspielerische Rolle zuerkennt – der Schurke, der Dieb, die Verliebten, die Arbeiter, der Clown – wirkt „Die Eiche“ in der gegenwärtigen Naturdokuwelt wie ein Anachronismus: Haben doch Filme wie Andrea Arnolds „Cow“, Victor Kossakovskys „Gunda“, „Space Dogs“ von Elsa Kremser und Levin Peter oder Jerzy Skolimowskis „EO“ eine Verschiebung des Naturfilms weg vom Anthropozentrischen vorangetrieben, hin zur letztlich nie ganz verständlichen Andersheit des stummen Tiers.

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Charbonnier und Seydoux bestehen hingegen darauf, die vorgefundene Natur als immer auch erfundene zu zeigen und machen stets auf diesen Zugriff aufmerksam: durch den artifiziellen Einsatz von Musik und perkussiven Akzenten, auch durch auffallende visuelle Effekte und durch plastische Geräusche, bei denen man die Geräuschemacher förmlich bei der Arbeit sieht.

Bei aller berechtigten Kritik an einer Vermenschlichung, die Wildtieren Vornamen gibt, Zootieren wie zweitklassigen Darstellern einer Daily Soap Absichten unterstellt und Jungtiere wie Welpen, Zicklein und Küken stets mit dem Appendix „-Baby“ bezeichnet: Die Fähigkeit, sich in andere hineinzufühlen, und sei es eine Made, ist halt auch nicht unbedingt das Verkehrteste. Mit ihrem durchaus manipulativen und dabei sehr unterhaltsamen Blick aufs vermeintlich Unspektakuläre dürfte „Die Eiche“ dafür sorgen, beim nächsten Waldspaziergang mehr zu sehen.

Die Waldmäuse wohnen im Wurzelwerk der Eiche
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Quelle: © 2022 GAUMONT / X Verleih AG

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