Einer der Gründe, die möglicherweise am entschiedensten dagegensprechen, Schriftsteller werden zu wollen, sind jene Menschen, die, wenn man auch nur halbwegs erfolgreich ist, irgendwann möglicherweise mit einer Kamera vor einem sitzen (oder einen auf ein Pferd setzen oder in einen Strandkorb im Nirgendwo) und dämliche Fragen stellen.
Wo man denn seine Ideen her hat. Wie das mit den Frauen war (und ist). Wie sehr man selbst drinsteckt in seinen Büchern. Wie das überhaupt ist mit der Wirklichkeit und der Fiktion und dem Leiden und der Literatur. Menschen, denen man, vielleicht um sie zu erschrecken, Plattitüden erzählt – „Der Text ist die Hülle“, zum Beispiel, „die das Opfer umschließt“, das Opfer, das man der Literatur gebracht hat nämlich.
Denen man sich mit allen Mitteln zu entwinden versucht. Und die dann, obwohl sie eigentlich nichts erfahren haben, aus Stunden von Material – sie waren noch im Heimatdorf, haben alte Lieben und ganz alte Freunde aufgetrieben – einen Anderthalbstünder zusammenschneiden, in dem die ganze Wahrheit über den berühmten Schriftsteller stecken soll.
Von Martin Suter gibt es so einen Anderthalbstünder. „Alles über Martin Suter. Außer der Wahrheit“ heißt er. Und was er ankündigt, löst er natürlich beides nicht ein. Man sieht Suter am Ort seiner Kindheit, auf Ibiza, in Marokko. Man sieht ihn, wie er nachgedrehte Szenen seiner eigenen Romane beobachtet. Ob man am Ende irgendwas gelernt hat darüber, wie die Bücher dieses literarischen Abwehrzauberers und Ausweichkünstlers zustande kommen, ist eher zweifelhaft. Aber schön ist der Film schon.
Von Peter Stamm, dem Landsmann Suters, gibt es jetzt auch so einen Anderthalbstünder. „Wechselspiel – Wenn Peter Stamm schreibt“ heißt er. Und zumindest den ersten Teil des Titels löst er tatsächlich ein. Was unter anderem daran liegt, dass Stamm im Wechselspielen, im Hakenschlagen ein mindestens ebensolcher Virtuose ist wie Suter im Umdichten von Lügen in Wahrheit (und andersherum).
Das geht schon damit los, dass – eigentlich wollte der Dokumentarfilm Stamm beim Schreiben eines Romans begleiten – der Roman schon fast fertig war. Ein Roman, in dem es um einen Schriftsteller geht, den ein Dokumentarfilmteam beim Schreiben eines Romans beobachten will, um hinter das Geheimnis seines Schreibens zu kommen.
Dass dieser Dokumentarfilm Teil eines großen, in seiner mehr oder weniger klammheimlichen Inszeniertheit fast schon autofiktionalen Ausweichmanövers ist, eine im Grunde heidenspaßige Spiegelfechterei, wird bei der Lektüre von „In einer dunkelblauen Stunde“ ziemlich bald klar.
Schläge mit dem Zaunpfahl
Stamm, begnadeter literarischer Identitätsspieler, Doppeltebödenbauer, brillanter Ausloter menschlicher Möglichkeiten, stellt relativ große Hinweisschilder auf. Fernando Pessoa, der Weltmeister des literarischen Identitätswechselspiels, liefert das Motto. Der Schriftsteller, der sich – augenscheinlich anders als Stamm – eher widerwillig auf das Fragespiel nach seiner literarischen Identität eingelassen hat, lässt sich als sanfte Stamm’sche Blaupause erkennen. Dass der Mann auf dem Cover Peter Stamm wie aus dem Dokumentarfilm geschnitten ähnelt und dass er Richard Wechsler heißt, sind allerdings schon ziemlich schmerzhafte Schläge mit dem Zaunpfahl.
Die Frau, die da mit ihrer Kamera Wechsler gegenübersitzt, der schon mal bessere Tage hatte, heißt Andrea. Sie erzählt Stamms Roman. Sie ist eine unzuverlässige Erzählerin. Man hört ihr zu, mag sie nicht, folgt ihr trotzdem. Der Film geht schief, Wechsler weicht ständig aus, entzieht sich, irgendwann, da ist der Film aber auch schon gescheitert, ist er (sehr im Gegensatz selbstredend zu Peter Stamm, der gerade seinen 60. Geburtstag gefeiert hat) tot.
Der Roman geht aber weiter. Andrea glaubt, den Glutkern allen Wechsler‘schen Erzählens gefunden zu haben. Judith, Wechslers große Liebe, die aber nie gelebt wurde, die nur Literatur wurde. Aber was heißt hier nur? Eine luftige Botanisiertrommel ist dieser Roman, voll von Epiphanien, Fantasien, Suchbewegungen, Abschweifen über Zehn-Meter-Turmsprünge und Eisenbahngeräusche und YouTube-Selbstbiografien. Über Bedingungen des Schreibens und der Literatur. Und über ihren gegenwärtigen Stand.
Stamm nutzt Wechsler nicht nur zu einer Art Verschleiertanz seiner selbst. Sondern als Diskursbeitragsabwurfmaschine. „Dieses ganze autobiografische, autofiktionale Zeug“, sagt Wechsler zum Beispiel, „wozu soll das gut sein? Diese geheuchelte Authentizität, die verlogener ist, als jede Erfindung es je sein könnte. Nie lügt man so schamlos, als wenn man von sich selbst erzählt.“
Das ist natürlich ein interessanter Standpunkt, man würde gern jemandem zu ihm gratulieren. Weiß aber nicht genau wem. Man darf ja Wechsler nicht mit Stamm – Entschuldigung, man wird vom langen Irren durch dieses Spiegellabyrinth ganz albern – verwechseln.
Auch Wechslers Antworten auf die Fragen, was das Produzieren von Literatur, das Erfinden von Geschichten mit einem macht, wie es das Erleben von Realität verändert, würde man (und wird irgendwer garantiert auch), das hat Stamm jetzt davon, natürlich gern auf ihn beziehen.
Muss man aber auch nicht. Man kann all das auch einfach in der hohen Luft stehen lassen, für die und aus der heraus „In einer dunkelblauen Stunde“ erzählt ist.
Eine Frage allerdings, die im Prinzip einfacher zu beantworten, aber durchaus interessanter ist, als die, wo der Autor eines Romans im Roman steckt und ob nun seine große Liebe etwas mit seiner Literatur zu tun hat und sich bei Judiths und Andreas Sichtung des Wechsler‘schen Nachlasses einstellt, bleibt unbeantwortet: Ob jemals jemand ein Glas Sambal Oelek aufgebraucht hat.
Peter Stamm: In einer dunkelblauen Stunde. S. Fischer, 256 Seiten, 24 Euro.