Netzkolumne: Je unperfekter, desto besser

Netzkolumne: Wenn alles perfekt aussieht, ist gerade die grobkörnige Optik, die holprige Oberfläche erstrebenswert: Handyaufnahme auf einem Konzert.

Wenn alles perfekt aussieht, ist gerade die grobkörnige Optik, die holprige Oberfläche erstrebenswert: Handyaufnahme auf einem Konzert.

(Foto: Florian Peljak)

Weil vieles nun zu glatt wirkt: Die Nachfrage nach Fototechnik aus den Nullerjahren ist stark gestiegen.

Von Michael Moorstedt

Die Fotos, die unsere Smartphones anfertigen, zeigen nicht exakt das, was ist. Dank der in ihnen arbeitenden Software werden zum Beispiel selbst mit zittriger Hand und des Nachts aufgenommene Fotos zu geradezu hyperreal makellosen Werken.

Aktion erzeugt natürlich immer Reaktion. Glaubt man einem Bericht der New York Times, wollen die Jüngeren heute deshalb genau das Gegenteil. Sie tauschen moderne Technik gegen Handys und Kameras aus den frühen Nullerjahren. Es ist natürlich zweifelhaft, ob ausgerechnet eine Zeitung eine verlässliche Quelle für neueste Jugendkultur-Entwicklungen ist. Aber als Gegenentwicklung ergibt das Interesse an Geräten und Handlungen aus früheren Zeiten schon Sinn. Wenn alles perfekt aussieht, ist gerade die grobkörnige Optik, die holprige Oberfläche erstrebenswert.

Ältere Digitalkameras machen qualitativ schlechtere Bilder - aber genau das ist gewollt

Junge Leute preisen Digitalkameras auf Tiktok an und teilen die neuen alten Fotos auf Instagram. Man kann den Trend sogar mit Zahlen belegen. Auf Tiktok hat der Hashtag #digitalcamera 184 Millionen Aufrufe. Das macht sich natürlich direkt bei der Nachfrage bemerkbar. Suchanfragen nach "Digitalkamera" sind auf Ebay im Kommen. Bei bestimmten Modellen sind sie im vergangenen Jahr um 90 Prozent gestiegen. Ältere Digitalkameras nehmen weniger Details auf und lassen weniger Licht durch ihre Objektive, was zu qualitativ schlechteren Bildern führt. Aber unscharfe, altmodische Fotos sind laut Times genau das, was die Generation Z will, um sich von der Masse abzuheben.

Ein anderes Magazin verkündet derweil, dass die alte Technologie, die durch den sich ständig weiterentwickelnden Markt obsolet geworden ist, auch als Modeaccessoire zweckentfremdet wird. Kabelgebundene Kopfhörer sind jetzt Halsketten, iPod Shuffles haben sich in Haarspangen verwandelt, und andere Tech-Spielzeuge, die einst als begehrtes Statussymbol galten, werden jetzt in Klamotten integriert. Ganz so neu ist das freilich nicht. Vor ein paar Jahrzehnten stellte man sich stattdessen Schreibmaschinen, Super-8-Kameras und selbstverständlich Plattenspieler in die Studentenbude. Doch Nostalgie gehört zum Privileg der jungen Generation - genau wie die damit einhergehende Überzeugung, zu den Ersten zu zählen, die dieses Gefühl jemals erlebten.

Weil aber in der Gegenwart alles irgendwie immer auch meta ist, geht es nicht nur um die Technik selbst, sondern auch darum, was man mit ihr anstellt. "Tough Watch" also etwa, schwer ertragbare Videos und Clips, sind inzwischen ein eigenes Genre. Anstatt aufgeblähter Videos mit zahlreichen Requisiten, Nebendarstellern und einer ausgefeilten Nachbearbeitung gibt es nun absichtliches Fremdschämen. Professionalität und Coolness sind uncool, je unbeholfener, desto besser.

Schockstarr, wie ein Reh im Scheinwerferlicht, blicken sie ins Objektiv, tun so, als wüssten sie nicht, was sie mit ihren Händen anstellen sollen und stammeln unzusammenhängende Sätze. Hartgesottene Medienprofis verhalten sich also so, wie es einst wir alle taten, als soziale Medien noch neu waren und die Menschen plötzlich vom Empfänger zum Sender wurden. Beim Publikum kribbelt es unangenehm. Die Zuschauer sind begeistert.

Zur SZ-Startseite

SZ PlusAnaloge Fotografie
:Und es hat klick gemacht

Immer mehr Menschen nutzen wieder klassische Kameras. Das ist eine hervorragende Nachricht für die Fotografie.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: