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  4. Twitter-Erfolg „Thomas Mann Daily“: Ein Interview mit Felix Lindner

Literatur Thomas Mann Daily

Wir alle haben den Alltag eines Nobelpreisträgers

Redakteur im Feuilleton
Quelle: Getty Images/Hulton Archive/Culture Club; Montage: Infografik WELT
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Bei Twitter ist „Thomas Mann Daily“ zum Phänomen geworden: Jeder liest mit, wie scheinbar unproduktiv der Schriftsteller war. Im Interview erklärt der Macher des Accounts, welche Marotte von Thomas Mann ihm besonders auffällig scheint.

Thomas Manns Tagebücher füllen im Bücherregal zehn schwere Bände mit insgesamt 9504 Seiten. Als tägliches Zitat bei Twitter wurden sie zur federleichten Kost, der inzwischen mehr als 27.000 Abonnenten folgen. Betreiber von @DailyMann ist Felix Lindner, Doktorand im Graduiertenkolleg „Kleine Formen“ an der HU Berlin.

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WELT: Ein Großschriftsteller als Daily Soap bei Twitter, in ganz kurzen Zitaten. Wie entstand die Idee zu „Thomas Mann Daily“?

Felix Lindner: Der Account entstand, als ich mich für meine Dissertation wieder mehr mit den Mann-Tagebüchern befasst habe. Ich konnte das alles irgendwann nicht mehr ertragen, dieses endlose peinliche Selbstgespräch. Eines Abends war ich dann angetrunken und sauer, dass ich anscheinend der Einzige bin, der sich das regelmäßig antut. Also dachte ich: Müssen es halt alle lesen. Am Ende war es wohl ein Weg, wieder mehr Distanz zu meinem Gegenstand zu gewinnen. Auch wenn ich jetzt natürlich noch mehr in die Tagebücher schauen muss.

WELT: Finden Sie die Zitate spontan und täglich neu?

Lindner: Ich stehe tatsächlich jeden Vormittag vor dem Regal und suche nach einem Zitat. Das dauert aber nicht lang, ich habe ja alle Bände durchgearbeitet und die guten Stellen markiert. Wäre der Account durchkuratiert, könnte ich nicht so gelenkig in der Auswahl sein.

WELT: Führen Sie Statistik? Mit welchen Stellen kommt Thomas Mann bei Twitter am besten an?

Lindner: Ich führe keine Statistik, aber ich weiß mittlerweile ganz gut, welche Zitate funktionieren könnten und welche nicht. Am beliebtesten sind wohl die Jammereien: nicht arbeiten wollen, müde sein und schlecht gelaunt, die ganze Unlust an der Welt. Das ist ja alles Identifikationspotenzial, und das nehmen die Leute gern an, weil der Mann-Mythos vom dauerdisziplinierten Helden der Arbeit und als bildungsbürgerliches Erkennungszeichen dabei genüsslich schwindet. Wir haben alle irgendwie den Alltag eines Nobelpreisträgers. Der meistgelikte Tweet war dann auch: „Große Abneigung, nachmittags noch irgend etwas zu tun“ vom 10.8.1948.

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WELT: Legt Twitter die Quintessenz der Tagebücher frei? Ist Mann in ultrakurz sogar unterhaltsamer als im Original?

Lindner: Mir haben kürzlich ein paar Leute auf Twitter Fotos geschickt, dass sie sich die Tagebücher zugelegt haben. Sie werden wohl enttäuscht sein, über weite Strecken passiert gar nichts außer pflichtschuldiger „Tagesrechenschaft“, wie sie Mann nannte: O-Saft getrunken, rasiert, geschrieben, Mittagessen, spazieren, Korrespondenzen, Musik, Schlaf – die Tage sind oft alle gleich, die Textlängen auch, eine halbe bis eine Buchseite. Die Komik des Ganzen steckt irgendwo dazwischen. Dass da einer mit sich selbst spricht wie ein preußischer Beamter und abends viel zu müde ist, seinen empfindlichen Gefühlshaushalt gründlicher als mit ein paar kurzen Sätzen aufzuräumen. Die Tagebücher haben keinen Stil, aber sollen sie ja auch nicht.

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WELT: Was zeichnet die Tagebücher aus, gerade auch als Körperprotokolle, die Sie erforschen?

Lindner: Ich beschäftige mich ja unter anderem mit der Frage, was Schriftsteller historisch als Arbeitsstimmung wahrgenommen haben, wie sie versucht haben, sich und ihre Körper unter eine Dauerbeobachtung zu stellen, um den kreativen Prozess auswertbar und damit planbar zu machen. Thomas Mann war da, im Vergleich zu anderen, weniger kreativ. Musil hat Diagramme über den Zusammenhang von Produktivität und sexueller Aktivität geführt, Doderer hat über fünf Jahre jede kleinste Schreibarbeit mit Wochen- und Monatsdurchschnitten der geschriebenen Seiten protokolliert, Nietzsche suchte monatelang nach dem richtigen Schinken, um besser schreiben zu können.

Müssen es halt alle lesen: Felix Lindner
Müssen es halt alle lesen: Felix Lindner
Quelle: Courtesy Felix Lindner

In Manns Tagebüchern geht es nicht ums Besserwerden, sondern darum, das Pensum einzuhalten, das fast nie eingehalten wird. Deshalb auch kein glücklicher täglicher Eintrag über das Geleistete, sondern das Verzeichnen der unendlichen Störquellen: Magen, Pudel und Krankheit. Haushälterinnen, Briefe und Kinder, nicht richtig sitzende Unterhosen und falsch zubereitete Krabbensuppen. Wann die Arbeitsstimmung kommt, ist unvorhersehbar, aber man weiß immer, wann sie nicht da ist.

WELT: Versteht man Thomas Manns Werke besser, wenn man um seine in den Tagebüchern notierten Empfindlichkeiten weiß?

Lindner: Man versteht sie vielleicht nicht besser, aber anders. Wenn ein so übergroß gemachter Autor wie Thomas Mann noch gelesen werden soll, muss man ihn vom Sockel heben und zeigen, wie das gemacht wurde, was im Schmuckschuber in der Glasvitrine steht. Es geht dann nicht um Biografismus oder Kanonplätze, sondern um einen Literaturzugang ohne Habitus und Selbstbespiegelung.

WELT: Man sichtet bei Twitter inzwischen auch einen Daily Thomas Bernhard (@dailybernhard), einen Goethe (@goethe_jw) oder Arno Schmidt (@arnodaily). Kennt man sich in der Szene?

Lindner: Die Accounts kenne ich, die Betreiber nicht. Es gab noch weitere „Daily“-Versuche, und es ist spannend zu sehen, welche warum funktionieren und welche warum nicht. Für Thomas Mann kann ich sagen, dass es wohl die Mischung aus Konsistenz der Befindlichkeitsprosa, einem verselbstständigten Mythos um einen kanonischen Autor und dem passgenauen Datum ist.

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