Blandine Pluchet: "Die Vermessung der Berge":Staunen und verstehen

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Beobachtung von Meteoren in den Cevennen. (Foto: Laëtitia Locteau (Illustration)/Flammarion, Paris)

Mit wissenschaftlicher Neugier wandert Blandine Pluchet durchs Gebirge. Ihre Begeisterungsfähigkeit ist ansteckend.

Von Stefan Fischer

Man soll sich nicht täuschen: Denn anders, als man vielleicht meinen könnte, entgeht den Menschen in der Entlegenheit des Hochgebirges nichts. Gerade dort nicht: Auf dem Jungfraujoch beispielsweise finden regelmäßig Aerosolmessungen statt, aus denen sich Rückschlüsse ziehen lassen, inwieweit sich einzelne europäische Länder an die Vereinbarungen des Pariser Klimaschutz-Abkommens halten. Bezogen auf diesen Aspekt, kann man vom Jungfraujoch also weite Teile des Kontinents im Blick haben.

Blandine Pluchet ist fasziniert von solchen Geschichten. Sie hat vor mehr als zwanzig Jahren ein Physikstudium abgeschlossen, und wenn ihr ursprünglicher Plan aufgegangen wäre, würde sie heute womöglich auch eine Forscherin sein, die im und mit dem Gebirge arbeitet. Ihre Bewerbung um eine Doktorandinnenstelle am Institut für Meteorologie und Klimaforschung in Garmisch-Partenkirchen ist seinerzeit allerdings abgelehnt worden. Pluchet ist dann Schriftstellerin geworden.

Mit einem Laser führt der Physiker Hannes Vogelmann auf der Zugspitze Forschungen in der Atmosphäre durch. (Foto: Laëtitia Locteau (Illustration)/Flammarion, Paris)

Jedoch: "Die Physik blieb, sie lieferte den Stoff für meine Bücher", schreibt Pluchet im Vorwort ihres Buches "Die Vermessung der Berge". Das gilt für diesen Titel ganz besonders. Die Recherchen dafür, ausgelöst durch eine Klettertour in den bayerischen Alpen gemeinsam mit einer guten Freundin, haben sie wieder in Kontakt gebracht mit den Bergen. "Ich wollte viel mehr über die Berge erfahren. Ich musste diese Berge, die mir ihre Geschichte ins Ohr raunten, näher kennenlernen. Nicht mehr als Wanderin, sondern als Physikerin." Ein Jahr lang traf sie immer wieder Wissenschaftler, größtenteils in den Alpen, aber auch in den Pyrenäen, im Apennin, im Zentralmassiv und im Harz sowie in ihrer westfranzösischen Heimat. Der erste Weg führte die Autorin nach Garmisch-Partenkirchen, an das Institut, das sie damals nicht aufnehmen wollte.

Hier trifft sie Hannes Vogelmann, der auf der Zugspitze mithilfe eines Laserstrahls Atmosphärenforschung betreibt. Das ist ganz praktische Physik, der auch Pluchets Zuneigung gilt: Sie interessiere sich für eine Wissenschaft, schreibt sie, "die auf die Welt blickt, die den Wind, die Erde oder den Himmel betrachtet, eine Physik, die das Draußen erforscht". Eine Physik, die sich den Elementen aussetzt.

Die Berge dienen als Frühwarnsystem für Klimaveränderungen

Ihr Buch "Die Vermessung der Berge" ist gleichwohl kein wissenschaftliches Werk, man muss als Leser auch keine Expertise mitbringen, nur Neugier und Offenheit. Dann kann man gemeinsam mit Blandine Pluchet außergewöhnliche Wanderungen unternehmen und aus einem sehr speziellen, sehr erhellenden Blickwinkel auf die Gebirge schauen.

Teilweise eignen sich die Berge für Forschungen, die gar nicht sie selbst zum Inhalt haben. Fernab von der Zivilisation und deshalb frei von störenden, die Messergebnisse verfälschenden Einflüssen lassen sich dort Erkenntnisse sammeln beispielsweise über Umweltverschmutzungen und Klimaveränderungen. Die Berge dienen insofern als ein Frühwarnsystem. In anderen Fällen lässt sich mithilfe der Physik aber auch ein Gebirge selbst besser verstehen. Und dann gibt es noch eine Reihe von faszinierenden Phänomenen, denen man sich im Hochgebirge ausgesetzt sehen kann - und für die es immer eine physikalische Erklärung gibt.

Gebirge sind maßgeblich fürs Wetter. (Foto: Laëtitia Locteau (Illustration)/Flammarion, Paris)

Mit Hannes Vogelmann spricht Blandine Pluchet über Elmsfeuer, Halos und Sylphen - allesamt Lichtphänomene, die in Zusammenhang mit elektrischer Ladung in der Luft stehen. Und sie reden über das Brockengespenst, eine optische Erscheinung, die zum Gegenstand von Sagen und Legenden geworden ist. Für die es jedoch ebenfalls eine wissenschaftliche Erklärung gibt: Das Brockengespenst ist nichts anderes als der verlängerte Schatten dessen, der dieses vermeintliche Gespenst sieht. Abhängig von Sonnenstand und der Höhe der Nebelbänke oder Wolken kann dieses Phänomen auftreten, nicht nur am Brocken, aber aufgrund der Gegebenheiten besonders häufig dort.

Einnehmend an "Die Vermessung der Berge" ist, dass Blandine Pluchet nicht kühl sezierend vorgeht. Ihr ist nicht an einer Entzauberung gelegen. Der Drang, bestimmte Phänomene und Zusammenhänge verstehen zu wollen, steigert nur ihre Begeisterung und Neugier. Es gibt beispielsweise Erklärungen dafür, weshalb man die Tiefe des Raumes im Hochgebirge deutlicher sieht und "die Dreidimensionalität der Landschaft so deutlich hervortritt wie nirgendwo sonst" - das liegt an den großen Entfernungen und daran, dass die Luft dort viel weniger Feuchtigkeit und Staub enthält. Dieses Wissen verringert die Faszination, die dieser optische Eindruck erweckt, jedoch keineswegs.

Blandine Pluchet: Die Vermessung der Berge. Eine Wanderung zur Entdeckung der Weltgesetze. Aus dem Französischen von Reiner Pfleiderer. Bergwelten Verlag, Salzburg/München 2023. 216 Seiten, 28 Euro. (Foto: Bergwelten Verlag)

Die Autorin erhält sich ihre Fähigkeit zu staunen, sie lässt sich berühren und verführen von der alpinen Landschaft, sie sucht nach den Momenten der Überwältigung. Um dann immer wieder den Dingen auf den Grund zu gehen. So gelingt es ihr beispielsweise, aufgrund des Vorkommens einer bestimmten Blume - des Böhmen-Gelbsterns -, die nur dort wächst, wo zwei geologische Zonen aufeinanderstoßen, nämlich Granit und Kalk, herzuleiten, dass im Nordwesten Frankreichs ein Gebirge existiert, das allerdings nie in relevantem Ausmaß aufgefaltet worden ist.

Die Erschließung von Wissen führt also dazu, dass man nur umso faszinierter ist, je mehr Zusammenhänge man erkennt oder erklärt bekommt. Von sich aus würde man nämlich vieles schlicht nicht wahrnehmen (können). Besonders viel erfährt und erlebt übrigens, das stellt Blandine Pluchet immer wieder fest, wer seine Beobachtungen bei Dunkelheit anstellt.

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